» ABENDLAND | Astrid Schwabe, Neues Deutschland, 10. November 2011
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Menschheitsdämmerung

Die Rückseite der Sonne – Filme von Fred Kelemen
Eine Werkschau im Kino Krokodil

Schwarzbild. Kriegsgeräusche. Dann der lange Gang eines Arbeitsamtes, durch den die Kamera langsam, beinahe unmerklich fährt. Links und rechts sitzen oder stehen Menschen. Verwahrlosung, Schmutz auf dem Boden, kühles Neonlicht, die Menschen apathisch. Einige Großaufnahmen, grobkörnig, leicht verzerrt - auf Video gedreht -, lassen uns in Gesichter älterer und junger Menschen sehen, voller Sorgen, aber auch stiller Ergebenheit. Es ist, als ob das, was wir einen Moment lang sehen, eigentlich nicht für unser Auge bestimmt wäre. Ein Fremder, der nicht zu den Wartenden gehört, sagt zu einem von ihnen: „Ich habe Arbeit für Dich.“ Dessen Gesicht bleibt unbewegt. Er schüttelt den Kopf. Raucht. Ahnt er die Schmutzigkeit des Angebotes? Der Mann im Ledermantel, der sich zu ihm niedergebeugt hatte, richtet sich wieder auf, schlendert, einen Kampfhund an der Leine, träge den Gang entlang, wählt einen anderen Platz, wo er einem anderen, der mit einem Gameboy spielt, aus dem die Kriegsgeräusche tönen, den selben Vorschlag unterbreitet. Als eine adrett angezogene junge Angestellte mit einer Kaffeekanne den Gang entlang gestöckelt kommt, erhebt sich der zuerst Angesprochene, tritt auf die Frau zu, stößt ihr aus Versehen  die Kaffeekanne aus der Hand, sagt leise: „Entschuldigen Sie...“, streift seine schwarze Wollmütze vom Kopf – die  Großaufnahme zeigt uns diese Geste der Demut bedrückend deutlich -  und sagt weiter leise zu ihr: „Ich wollte fragen ...“ Die Frau aber, nervös geworden und hochmütig, sagt herrisch zu ihm: „Setzen Sie sich wieder hin!“ Da packt er sie am Hals und stößt ihren Kopf  mit einem heftigen Schlag gegen die Wand, wo sie zusammensinkt und weinend hocken bleibt. Die Nahaufnahme zeigt uns das hilflose, erschrockene Gesicht des Mannes, das sich langsam abwendet.

So beginnt die Geschichte Antons (Wolfgang Michael), des Arbeitslosen und seiner Freundin Leni (Verena Jasch). Anton ist gleichsam abgestorben, hat als »halber Mensch« ohne Arbeit, kein Zutrauen mehr zu sich und beider Liebe. Leni will das nicht akzeptieren, will sich ihrer Liebe wieder vergewissern und eine Öffnung in dem dunklen Kokon finden, der beide umgibt. Doch ein Streit bringt sie dazu, dass jeder für sich allein in die Dunkelheit der Nacht aufbricht. Durch Begegnungen mit anderen Menschen, aber auch durch unerwartete Begegnungen miteinander erfahren sie Kränkungen, Bitternis, Leid, großen Schmerz, aber auch etwas über sich und ihre Liebe, was sie vorher so noch nicht wussten.

Anton wird von einem Mann, einem Ausländer, um Hilfe gebeten. Seine kleine Tochter ist verschwunden, und alle Bemühungen, sie wieder zu finden, blieben erfolglos. Nun könne nur noch ein Opfer helfen, ein Liebesopfer, das er selbst erbringen muß. Am Morgen liegt das Kind tot am Fluss. Es ist Anton, der durch die schweigende, passive Menschengruppe hindurch zu dem Leichnam geht, niederkniet und versucht, die an die Hände des Kindes genagelten Hufeisen (ein Bild aus der Realität der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre) zu entfernen. Als er dem kleinen Leichnam diesen letzten Dienst erweist und somit dem erniedrigten und ermordeten Kind seine Würde als Mensch zurück gibt, vermittelt uns die Körnigkeit und leichte längliche Verzerrung der Video-Nahaufnahme seines Gesichts, die an Bilder El Grecos denken lässt, einen unendlichen Schmerz. Jemand gibt ihm ein weißes Tuch, das er über das tote Kind breitet, dann geht er, das Kind auf seinen Armen, geführt von der Schwester der Toten, durch die morgendlich leere Stadt. Ein Windstoß lässt das Leichentuch herunterrutschen, und Anton und das Mädchen müssen es mühselig wieder neu über die Leiche breiten, ehe sie weitergehen können. Ein stiller, sanfter Augenblick von Empathie inmitten der Zerbrechlichkeit des Lebens, der uns als Zuschauer erzittern läßt.

Fred Kelemens strenge Formensprache mit ihren langen Einstellungen, unterbrochen von den grobkörnigen Videoaufnahmen von Gesichtern oder anderen Details, die uns einen Blick in das ungeschützte Innere der Menschen ermöglichen, schafft große filmische Bilder, die in uns die schmerzhaften Erfahrungen der Menschen in dieser Nacht und unseres eigenen Menschseins zum eindringlichen Erlebnis werden lassen. Zugleich strahlt »Abendland« eine verzehrende Melancholie aus, die uns verzaubert und in dunkel-schönen Bann schlägt. Das Lied »Lagrima« der berühmten portugiesischen Fado-Sängerin Amalia Rodriguez wie auch die Lieder Rainer Kirchmanns von der Gruppe Pankow tragen das ihrige zur Magie des Filmes bei.

Dieser Film stößt einem zu wie ein Ereignis im Leben.

Heute, zwölf Jahre nach seinem Entstehen, tritt seine politische Dimension noch deutlicher  hervor: Diese - unsere - Gesellschaft befindet sich mit sich selbst im Krieg. Alles ist zur Ware geworden, die Arbeit, die Liebe, die Kinder, die Hoffnung. Es ist schwer, sich ein fühlendes Herz zu bewahren, ohne vor Schmerz stumm oder gewalttätig zu werden.

Aber, das lässt uns der Film mit Kraft empfinden, dieses fühlende, mutig schutzlose Herz - die Bereitschaft zum Opfer, zu persönlicher Verantwortung, zu Vertrauen und Nähe, die, wie es Fred Kelemen nannte, „Würde verleihende anarchistische Kraft aufrichtiger Liebe“ – ist vielleicht das einzige, was uns retten könnte, weshalb Leni im Film auf die Frage, was denn schon ein Mensch sei neben einem Stern, die klare, zweifellose Antwort gibt: „Alles“.

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