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Feuilleton FAZ | Text: Jens Jessen | 09.02.1996, Nr. 34, S. 33 Schmerz zu treuen Händen Die barocke Vanitas-Metaphysik dieses Films entspringt schon seiner formalen Bildästhetik, ehe er seine Fabel überhaupt zu erzählen begonnen hat. Diese ist freilich von vergleichbar barocker Schwärze. Sie ordnet ihre Figuren zu einem Reigen des Schmerzes, der von Mensch zu Mensch weitergereicht wird. Der erste Schmerz ist der Schmerz des exilierten Argentiniers, der sich von einem russischen Akkordeonspieler (Valerij Federenko) die Tangos seiner Heimat vorspielen läßt. Erst bezahlt er ihn für diese Sehnsuchtsfolter mit Geld, dann nötigt er ihn noch, eine Flasche Schnaps zu leeren. Sturzbetrunken und wehklagend zieht der Russe durch Berlin, bis er in der Wohnung seine Frau mit einem Liebhaber trifft. Das ist der zweite Schmerz. Der dritte Schmerz aber ist der Schmerz der Frau (Sanja Spengler), deren Liebhaber von dem Mann niedergeschossen wird und die nun ihrerseits verzweifelt durch die Stadt irrt, ihre Blöße nur vom Mantel bedeckt, und in einer Kneipe kollektiv vergewaltigt wird. Das Konstruierte der Fabel tritt freilich erst im nachhinein und für den gliedernden Verstand zutage; dem Betrachter des Films ist es ein düsterer Rausch und von der magischen Plausibilität eines Albtraums. Nie hat ein dermaßen artifizieller Film eine dermaßen naive Rezeption des schaudernden Miterlebens provozieren können wie Kelemens "Verhängnis"; allein für diese Verschränkung von Kunstraffinement mit einer ebenso raffinierten Rezeptionspsychologie gebührt ihm ein Platz in der Filmgeschichte. Zum Zwingenden seiner Albtraumbilder trägt ein hochgezüchteter Sinn für Spannungsbögen bei; obwohl der Film nur aus zwei Dutzend Einstellungen besteht und alle suggestiven Möglichkeiten des Schnittes ungenutzt läßt, entsteht niemals jener Eindruck von Statik und Ungeschick, der andernorts die Ästhetik der Langsamkeit so dilettantisch scheinen läßt. Fred Kelemen kommt von der Malerei: das gibt seinen Bildern das Licht, die Textur und die Ikonographie von Gemälden; und er kommt vom Theater: das gibt ihm den Instinkt für den Moment, in dem der Vorhang fallen muß. Keine Szene ist eine Sekunde zu lang oder zu kurz, auch sie wird bis zu einem Höhepunkt schmerzhafter Empathie des Zuschauers getrieben, dann folgt der Schnitt; wie ein Fallbeil. Man muß kein Avantgardebewußtsein mit sich bringen oder in gesteigerter Erwartung moderner Filmkunst stehen, damit dieser Film mit der Wucht einer elementaren Depression über einen kommt. Der Film selbst ist in gewisser Hinsicht das Verhängnis; jedenfalls eines für das seelische Gleichgewicht des Zuschauers. Die Musik, die Liebe, der Rausch: alles, was schön ist, wird hier denunziert; jedenfalls insofern, als es zum Werkzeug des Fatums wird. Selten ist das Glitzern von Schnaps in einer Flasche so funkelnd verführerisch fotografiert worden; aber nicht, um die Schönheit des Alkohols zu feiern, sondern um die Schönheit durch den Alkohol zu denunzieren: als Mutter der Alkoholvergiftung und anderen Unheils. Selten ist der schöne Körper einer schönen Frau so ausführlich vorgeführt worden; aber nicht um das Begehren zu feiern, sondern um es als Quelle von Eifersucht, Gewalt und Notzucht plausibel zu machen. Selten auch hat Musik einen Film derart, bis zur Bedeutungslosigkeit aller Dialoge, dominiert; doch diese Musik, die dem Akkordeon des Russen entspringt, aber sich zur Kraft einer Orgel (und zur Dämonie der Bachschen d-moll-Toccata) steigern kann, ist keine Himmelsmacht. Sie treibt das Verhängnis voran; und da sie nicht nur Teil der Handlung, sondern zugleich Mittel des Films ist, zieht sie diesen selbst und damit alle Kunst ins Zwielicht des ebenfalls Fatalen. Jedoch nicht nur in diesem konstruktiven Sinne ist der
Film Teil des Menschenunglücks; er läßt auf subtile und
heikle Art den Zuschauer selbst am Unglück mitarbeiten, indem er
ihn zum Voyeur der verzweifelten, erniedrigten, schließlich vergewaltigten
Frau macht. Abermals könnte Kelemen ein Platz in der Filmgeschichte
gebühren: für die beispiellose, grausamer und anrührender
nicht denkbare Entblößung der Frau, die mit dem klischeehaften
Wort vom Mut zur Häßlichkeit nicht annähernd beschrieben
werden kann. Recht eigentlich häßlich wird Sanja Spengler nie;
aber sie geht einen Weg der physischen Demontage und sexuellen Demütigung,
der nur deshalb nicht pornographisch endet, weil ein merkwürdiges,
fast christliches Mitleiden und Erbarmen den Blick der Kamera steuert. Und es gibt ein weiteres, versteckter liegendes Moment,
das den irritierend barocken, religiösen Eindruck des Films verstärkt.
Er hat, einem Altarbild vergleichbar, die Gestalt eines Triptychons. Er
besteht aus drei Geschichten, und die mittlere ist Hauptstück und
Verbindungsglied der äußeren. In ihr überlappen sich die
Geschichte des Mannes und die der Frau; er übergibt an sie, was ihm
der Argentinier angetan hat, er gibt den Schmerz zu treuen Händen,
und sie erst kostet ihn, man kann es wohl sagen, bis zur bittersten Neige
aus. |