»“ZU LIEBEN IST EIN RADIKALER AKT”
Interview mit Fred Kelemen
von Zlatko Geleski
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Zlatko Geleski: In mehreren Ihrer Filme implantieren und untersuchen Sie die Liebe
in hoffnungslosen Welten. Was ist der Unterschied zwischen der Liebe des Paares
in dem dystopischen „Kalyi - Age of Darkness“ („Kalyi - Zeitalter der Finsternis“),
dem existenziellen „Nightfall“ („Abendland“) und der unerfüllten Liebe in
„Fallen“ („Krišana“)?
Fred Kelemen: Erlauben Sie mir bitte, mit der Gemeinsamkeit der drei genannten Fälle zu
beginnen: Die Sehnsucht. Es gibt eine Sehnsucht nach Liebe und danach, das Grauen
unserer unbarmherzigen und inhumanen menschlichen Welt mit Liebe zu überwinden.
Doch die Frage ist, ob diese Sehnsucht zur Liebe führt. Wenn ich einen Schritt tiefer in das
Thema einsteige, muss ich sagen, es gibt keine Liebe, es gibt nicht so etwas wie Liebe.
Liebe gibt es nicht. Was es nur geben kann, ist ein Individuum, das liebt. Das ist eine
Fähigkeit und ein Akt, aber kein Objekt. Die Frage ist also, ob wir fähig sind zu lieben, ob
wir diese Fähigkeit erlangen und entsprechend handeln können. Das erfordert Mut, das
erfordert, unsere falschen Egos, unseren Egozentrismus hinter uns zu lassen, das
erfordert, nonkonformistisch zu sein in Gesellschaften, die von einem System der
Ausbeutung, des Profitmachens, des materialistischen Pragmatismus, der Gewalt
beherrscht werden. Zu lieben und diese Energie in einer treu-ergebenen, konsequenten
Weise in die Tat umzusetzen, ist ein radikaler Akt. Es stellt das System und seine Betreiber
in Frage, es ist eine oppositionelle Haltung.
In allen drei Filmen, die Sie erwähnt haben, suchen die Personen nach der Fähigkeit, die
Energie des Liebens in die Tat umzusetzen, sie an verschiedenen Punkten ihrer
Beziehungen zum anderen zu verwirklichen.
In "Kalyi" geschieht dies auf einer mystischen Ebene durch die Vereinigung des
Metaphysischen mit dem Körperlichen. Vor dem Hintergrund einer zerfallenden Zivilisation
am Ende des 20. Jahrhunderts versuchen die Protagonisten in der begrenzten Zeit und im
begrenzten Raum einer einzigen Nacht in einem Akt verzweifelter Hingabe, die Reste von
Wärme zu finden. In einer bedingungslosen Akzeptanz der Energien des gegenwärtigen
Augenblicks versuchen sie, getrieben von ihrer Sehnsucht, die letzten Funken der
Hoffnung, der Vitalität, der Schönheit und der Fähigkeit zu lieben zu entfachen -
heraufbeschworen durch den menschlichen Körper. Genauer gesagt, es ist der Weg zum
Metaphysischen durch das Physische, die Auferstehung des verlorenen Geistes der Liebe
im menschlichen Fleisch. Zu spät; und folglich besteht der einzige Weg darin, die
gefallene, sterbende, alte Welt zu verlassen und über ihre Grenzen hinaus in einen großen
Nebel zu treten, in dem Utopia verborgen sein mag.
In „Nightfall“ ("Abendland") kämpfen die Protagonisten darum, dass ihre Liebesfähigkeit
nicht in der Dunkelheit einer sie bedrückenden Lebenssituation verschwindet, einer
Situation, in der ihre Würde durch die Werte der Gesellschaft, in der sie leben, in Frage
gestellt wird und ihre Liebesbeziehung dem Ende nahe ist. Um sie zu bewahren oder zu
erneuern, bedarf es der mutigen Entscheidung, für sie gegen die weltlichen und geistigen
Dämonen zu kämpfen. Es erfordert eine Umkehr, etwas, das im Griechischen "metanoia"
genannt wird.
Am Ende einer Liebesbeziehung ist eine wesentliche Frage, ob noch genug Energie
vorhanden ist, um sie wiederzubeleben und zu retten oder sie sterben zu lassen. Es ist ein
Moment der Konfrontation mit der eigenen inneren Realität, entblößt von den
romantischen Illusionen und Hoffnungen des Anfangs - ein Moment des Auftauchens einer
essentiellen Wahrheit und der Begegnung entweder mit der eigenen Fähigkeit, den
anderen zu lieben, oder mit der Leere.
In "Fallen" ("Krišana") ist die Fähigkeit zu lieben ein reines Verlangen, eine Energie, die
nicht in den Bereich des Realen übertragen werden kann, sie wird auf eine andere Person
projiziert, die eine Illusion bleibt, eine Schöpfung der Phantasie des männlichen
Protagonisten, eine Reflexion seiner Einsamkeit und Entfremdung im Spiegel der
Oberfläche der weltlichen Erscheinungen. Anstatt in die Realität einzutreten, bewegt sich
der männliche Protagonist in den Fäden des Netzes der von ihm gesponnenen
Geschichte. Er kann nicht in die Wirklichkeit eindringen und bleibt in seinen Geschichten
und Spekulationen über die Ereignisse, die Anderen und sich selbst gefangen, während
sich um ihn herum die Wirklichkeit auf mehr oder weniger dramatische Weise ereignet,
verursacht hauptsächlich durch ihn. Die meisten von uns sind in dieser Lage. Wir nehmen
Fragmente der weltlichen Erscheinungen auf, interpretieren sie und füllen die Lücken mit
unseren Spekulationen. Anstatt mit dem Realen verbunden zu sein, starren wir auf die
Leinwand unserer Konzepte. Das Reale hinter dieser Leinwand oder diesem Schleier
könnten wir nur betreten, wenn wir den Mut hätten, diesen Schleier zu durchbrechen,
wenn wir unseren Blick von außen nach innen wenden und unser Verlangen und unsere
potentielle Liebesfähigkeit auf das Reale übertragen, es in die Tat umsetzen, es in unser
weltliches Leben eindringen lassen und alles, was wir tun, mit seiner Gegenwart und
seinem Licht erfüllen würden.
Z. G.: In „Fate” ("Verhängnis") von 1994 treten Figuren aus verschiedenen Ländern
und unterschiedlicher Herkunft auf, die nach einer besseren Zukunft suchen.
Inwieweit wollten Sie mit diesem Film zeigen, dass die verschiedenen Kulturen den
Kern des heterogenen Europas bilden?
F. K.: Die Heterogenität Europas ist eine seiner größten Stärken und seine Schönheit liegt
in der Vielfalt seiner Kulturen. Die verschiedenen europäischen Länder oder Nationen sind
durch die Erfahrung des Schmerzes vereint, der durch eine lange Geschichte von Kriegen
verursacht wurde. Eine wünschenswerte Zukunft Europas wird sicherlich in einer
friedlichen Koexistenz und Zusammenarbeit seiner natürlich gewachsenen Regionen
gründen. Dann kann Europa ein schöner, farbenprächtiger Teppich sein, anstelle einer
öden Monokultur. In „Fate“ ("Verhängnis") treffen Menschen aus verschiedenen Ländern
aufeinander, aber sie versuchen, sich gegenseitig auszubeuten und zu missbrauchen,
statt Solidarität zu üben, sie dienen dem System der Gewalt, in dem wir leben – was sich
verheerend auf die gesamte Gesellschaft auswirkt –, statt nonkonformistisch zu sein und
einer Idee von Menschlichkeit zu dienen, die die Anerkennung des Fremden als
Landsmann desselben Heimatplaneten pflegt und den Anderen als Mitglied unserer
Menschheitsfamilie - auch wenn er oder sie unangenehm wäre - und nicht als Feind
betrachtet.
Wenn Europa den wachsenden separatistischen Nationalismus auf der einen Seite und
das wachsende Streben nach globalistischer Uniformität auf der anderen Seite mit der
Tendenz zum Totalitarismus auf beiden Seiten überwindet, könnte die Vielfalt der Kulturen
ein vitalisierender Segen für den Kontinent sein.
Z. G.: "Frost" steht auf dem Postament des europäischen Slow Cinema. War es
schwierig, dem kleinen Paul Blumberg die nötige schauspielerische Leistung zu
entlocken?
F. K.: Es war nicht schwierig, Paul vor der Kamera spielen zu lassen. Er war ein Kind von
sechs/sieben Jahren. Schon bei unserem ersten Gespräch habe ich ihm meinen Respekt
entgegengebracht und wir haben uns über bestimmte Dinge und Spielregeln geeinigt. Ein
Kind spürt sofort, ob es ernst genommen wird oder nicht. Ich habe ihn immer behutsam
behandelt, wohl wissend um die Zerbrechlichkeit und Sensibilität eines Kindes, und nie als
ein Kind, das einem Erwachsenen gegenüber minderwertig ist. Zwischen uns herrschte
ein gutes Verhältnis von Vertrauen und Ehrlichkeit. Für Paul bauten wir den Dreh wie ein
Spiel und wie Ferien auf dem Land auf - wenn auch ziemlich kalte Ferien -, wobei das
effektive Drehen nur einen Teil der Tagesaktivitäten ausmachte. Zusätzlich sprach ich mit
Paul und gab ihm Anweisungen in den einzelnen Einstellungen während die Kamera lief.
Es war ein großes Vergnügen, mit ihm zu drehen. Er hatte so eine starke Disziplin und
eine schöne, unverdorbene Präsenz vor der Kamera.
Z. G.: Was hat Sie an Sarajevo gereizt, um es in dem Film "Sarajevo Songs of Woe"
zu verewigen?
F. K.: Im Jahr 2013 habe ich das erste Seminar (ein Kamera- und Regie-Seminar) in der
von Béla Tarr gegründeten Film Factory in Sarajevo gegeben, das den Lehrbetrieb der
Schule eröffnete. Von diesem Zeitpunkt an arbeitete ich bis etwa Ende 2016 zwei Mal pro
Jahr in der Film Factory. Als ich Sarajevo und seine Bewohner besser kennengelernt
hatte, wurde ich eines Tages zu einer Filmszene inspiriert, als ich bei einem Spaziergang
einen bestimmten Ort in der Stadt beobachtete. Danach entwickelte ich den gesamten
Film, indem ich mir den Ablauf von dieser einen Szene bis zum möglichen Anfang und
zum möglichen Ende vorstellte. Die noch vorhandenen Lücken in meiner Vorstellung
füllten sich später im Prozess der Realisierung des Films.
Ich begann mit den Dreharbeiten zu "Sarajevo Songs of Woe" 100 Jahre nach der
Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo und dem Beginn des Ersten
Weltkriegs und 18 Jahre nach der Belagerung von Sarajevo. Sarajevo wurde aufgrund
seiner langen Geschichte der religiösen und kulturellen Vielfalt manchmal als "Jerusalem
Europas" bezeichnet. Nationalismus und ethnischer Radikalismus zerstörten dies. Ich
denke, Europa sollte von Sarajevo und seiner Zerstörung lernen und einen anderen Weg
einschlagen, um den Reichtum und die Schönheit der Vielfalt zu pflegen und zu
verteidigen.
Z. G.: Wie wichtig war das Spiel und der Kontrast von Licht und Schatten, das an
den Film noir erinnert, für die Entstehung von "The Man from London"?
F. K.: Das visuelle Konzept von "The Man from London" wurde nicht durch den so
genannten Film Noir inspiriert. Die Ästhetik des Verhältnisses von Dunkelheit und Licht ist
etwas, das ganz natürlich in meinem Kopf pulsiert und meine Imagination beherrscht. Da
die Filmkunst in erster Linie eine visuelle Kunst und eine Chronos-Kunst ist, ist das
Verhältnis von Dunkelheit und Licht in seiner Erscheinung in Zeit und Bewegung
wesentlich. Der Film "gibt die Möglichkeit, dem Licht eine Dimension in der Zeit zu geben",
wie Jonas Mekas einmal sagte.
Der Film Noir zelebriert diese essentielle Ästhetik, wie sie schon in der Stummfilmzeit und
im deutschen Expressionismus angewandt wurde. Auch ich habe eine Vorliebe für hohe
Kontraste im Verhältnis von Dunkelheit und Helligkeit und deren Grauabstufungen, um
eine bestimmte Grafik des Lichts und der Atmosphäre und ein Spiel des Sichtbaren und
Unsichtbaren oder fast nicht Sichtbaren zu schaffen. Die Beleuchtung einer Filmaufnahme
besteht im Wesentlichen darin, Schatten zu erzeugen, die letztendlich das Licht formen.
Z. G.: „Turin Horse“ hat eine immense Bedeutung in meinem Leben, und nach jeder
Sichtung, nachdem die Lichter im Raum, zwischen den Figuren, erloschen sind,
macht es mich sprachlos, aber mit Traurigkeit im Herzen. Was kann ein
Kameramann mit langen Einstellungen in einem Film erreichen, was er mit kurzen
Einstellungen nicht erreichen könnte? Den Fluss der Zeit besser einfangen? Die
Beobachtung vertiefen?
F. K.: Diese Frage berührt das Geheimnis des Lebens und der Kunst des Films. Es ist mir
nicht möglich, sie in einem Interview zufriedenstellend zu beantworten. Aber ich kann
versuchen, einige Punkte kurz zu erwähnen.
Wie die Musik ist auch der Film eine Kunst der Zeit, der auftauchenden und
verschwindenden Momente. Und das ist etwas, das wir aus dem Leben kennen. Die
Einheit von Raum und Zeit nicht zu zerstören, bringt uns nahe an den Herzschlag des
Lebens. Die auftauchenden und verschwindenden Momente in Kombination mit einer
bewegten Kamera schaffen die poetische Präsenz der sichtbaren Welt, die von Dunkelheit
und Licht geformt wird. Der Betrachter, derjenige, der sieht, wird Zeuge der Gegenwart in
Bewegung und erfährt die Dauerhaftigkeit von Leben und Tod, der Betrachter strömt im
Fluss der Zeitlichkeit der phänomenalen Welt. Der Film ist im Wesentlichen eine visuelle
Kunst und damit eine Kunst des Zeigens. Und was wir in einer Plansequenz sehen und
erleben, ist die poetische Wahrheit der unmittelbaren Geburt und des Todes von allem,
was existiert. Und das ist etwas, das durch einen geschnittene, eine bearbeitete Szene
oder Sequenz niemals vermittelt werden könnte. Eine geschnittene oder bearbeitete
Szene oder Sequenz ist ein künstlich, irgendwie intellektuell geschaffenes und
manipuliertes Ereignis, das sich von einer ungeschnittenen Plansequenz mit ihrem
metamorphen Fluss stark unterscheidet. Es ist, als würde man einen ungeschnittenen
Sonnenuntergang oder die Bewegung des wogenden Ozeans betrachten, im Gegensatz
z.B. zu einer Sequenz, die eine Welle nach der anderen zeigt, ohne ihr Auftauchen und
Verschwinden und ihr Fließen von einer zur anderen, oder einen Sonnenuntergang in
einzelne Moment geschnitten, was dazu führen würde, dass die langsame Bewegung und
damit der Sonnenuntergang als zeitliche Attraktion wegfallen würde.
Die so genannten "langsamen Filme" sind nicht langsam, sie sind präzise und sie zeigen
uns den Reichtum der Momente im Fluss der Zeit, der Präsenz ist; sie führen uns hinter
den Schleier der Oberfläche der Phänomene zu ihrer Quelle, zum magischen Bereich der
"dunklen Energie". So wie die Astrophysik "dunkle Löcher", "dunkle Materie" und "dunkle
Strömung" kennt, so gibt es auch eine "dunkle Energie", die die Quelle von allem sein
könnte: ein kleiner, aber unbegrenzter, unendlicher Bereich im Zentrum jeder Materie,
auch "Nichts" oder "Leere" genannt, oder, wenn man ein anderes Wort verwenden
möchte, das Göttliche: eine dunkle, leuchtende Quelle, aus der alles in einem
metamorphen Strom fließt und zu der alles augenblicklich zurückfließt. Die poetische
Realität dieser Energie kann fühlbar gemacht werden in einer Plansequenz und verleiht ihr
ein dunkles - das heißt unfassbares, unerklärliches - Leuchten.
Z. G.: Sie haben mit Joseph Pitchhadze, Pavel Lungin und Béla Tarr
zusammengearbeitet, die einen anderen Stil des Filmemachens haben. Wie flexibel
sollte ein Kameramann auf die Anforderungen der verschiedenen Regisseure
reagieren, um seine Vision zu verwirklichen, oder sollte er sich Regisseure
aussuchen, die seiner Sensibilität nahe stehen?
F. K.: Bei den genannten Regisseuren handelt es sich zweifellos um unterschiedliche
Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Arbeitsweisen. Aber jeder von ihnen hatte eine
klare Absicht und eine klare Vorstellung davon, warum sie mich eingeladen haben, mit
ihnen zusammenzuarbeiten. Ihre Wahl war nicht zufällig. Und mein Zugang hinsichtlich
des visuellen Flusses in der Zeit und mein Verständnis von Film stimmten mit den Ideen
überein, die sie für die einzelnen Projekte hatten.
Z. G.: Wo sehen Sie die Zukunft des Films, auf Filmfestivals, im Kinorepertoire oder
bei Streaming-Diensten?
F. K.: Zuallererst sehe ich die Zukunft des Films in den einzelnen Filmemachern, die diese
Filme in die sichtbare, materielle Realität bringen werden. Die Zukunft jeder Kunst sind die
Individuen, die Menschen, die sie schaffen.
Wenn es in der nächsten Generation von Filmkünstlern und -künstlerinnen eine Reihe
talentierter, sensibler, visionärer, leidenschaftlicher, mutiger, unkorrumpierter und
leidensfähiger Individuen gibt, die die künstlerischen und menschlichen Werte und die
reichen Dimensionen der Filmkunst verteidigen werden, wird sie eine Zukunft haben, egal
ob auf Filmfestivals, im Kino- oder Galerie- oder Museumsrepertoire, bei Streaming-
Diensten oder als zukünftige Superlaserprojektion auf die Oberfläche der dunklen Seite
des Mondes.
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Ohrid / Nordmazedonien, Jul 22 2022
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