» Die Leinwand ist eine magische Kugel | Mit Fred Kelemen sprach Till Müller-Edenborn |
Aus: NACHTBLENDE, Filmzeitschrift, No. 17, Herbst 2000, 8.Jahrgang
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Die Leinwand ist eine magische Kugel
Aus Gesprächen mit Fred Kelemen über dessen neuen Film ABENDLAND
Und die universelle Poesie des Kinos

Von VERHÄNGNIS bis ABEBENDLAND
Jeder einzelne Filmemacher geht seinen eigenen Weg. VERHÄNGNIS war mein Abschlußfilm an der Filmakademie, und er wurde zum Glück auf vielen Festivals sofort akzeptiert. Der Film lief dann auf etwa 50 Festivals; hauptsächlich international. In den USA setzten ihn die Kritiker auf die Liste der 10 besten Filme des Jahres 1995. Dieser erste Spielfilm hat mir einen gewissen Boden bereitet. 1995 gab es auch den Deutschen Filmpreis dafür. Dadurch gab es eine Fördersumme, die eine gute Basis für die Finanzierung von ABENDLAND war. FROST war ein „Kleines Fernsehspiel“ und wurde vom ZDF finanziert. Produziert wurde der Film von dem deutschen Verleiher von VERHÄNGNIS. Das war eine schwierige Erfahrung. Als Folge der Arbeit mit Nichtproduzenten verliefen die Dreharbeiten schon bald nach Beginn sehr schwierig. Niemand war wirklich für das Projekt ausschließlich zuständig. Es wurde im Verleihbüro so nebenbei gehandhabt. Es war von Anfang an klar, daß das Geld vom Bundesfilmpreis hier nicht einfließen sollte. Der Produzent versuchte mir während des Drehs einen Vorvertrag für meinen nächsten Film abzuringen. Als ich mich weigerte, wurde das Negativ nach den Dreharbeiten blockiert, so daß er nicht geschnitten werden konnte. Der Film war auf Festivals eingeladen und konnte oft nicht aufgeführt werden, so daß ich zum Beispiel in Rotterdam meine Arbeitskopie vorgeführt habe. Dort bekam FROST den Preis der internationalen Filmkritik (Fipresci). Bei einer Aufführung dieser stark beanspruchten Arbeitskopie in Hongkong stellte ich fest, daß der Film gerissen war, und damit konnte ich nicht mehr riskieren, ihn zu zeigen, denn das war ja das einzige, was von FROST noch existierte. Glücklicherweise hat dann das ZDF nach langem Hin und Her die Weltrechte an FROST gekauft, eine Kopie gezogen, und mittlerweile ist der Film auch schon ausgestrahlt worden. Die erste Aufführung der fertigen Kopie von FROST war im vergangenen Oktober in Tokyo, wo auch ABENDLAND lief. ABENDLAND hatte FROST gewissermaßen überholt.

Für ABENDLAND hatten wir als Start also schon die Summe des Deutschen Filmpreises, und in diesem Fall verlief die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Alexander Ris sehr gut. Und es gab auch Leute, die an das Projekt glaubten und bereit waren, Geld dafür zu geben, wie verschiedene Filmförderungen, der Filmverlag der Autoren, Pandora oder Heike Hempel vom WDR. Es ist Glückssache, ob man in den Redaktionen oder Filmförderungen jemanden findet, der offen ist für etwas, das von den langweiligen Normen abweicht. Wesentlich öfter trifft man da auf Leute, die sich an ihrer akademisch eingeübten Dramaturgie festhalten und sich auf nichts einlassen, was abweicht. Leute, die zu keiner Vision bereit sind und sehr bürokratisch vorgehen. Da werden viele von sehr viel Angst beherrscht. Es will auch kaum jemand persönliche Verantwortung übernehmen, also mutig zu dem stehen, was er vielleicht auch nur ganz persönlich für richtig hält. Ob eine Stelle wie das „Kleine Fernsehspiel“ des ZDF heute noch so offen und vom sogenannten Mainstream unabhängig ist wie vor ein paar Jahren, was ja für viele sehr wichtig war, kann ich nicht beurteilen.

Verlorene Tradition
Das Selbstbewusstsein des deutschen Films ist eigentlich seit 1933 kaputt. Seitdem ist das Bewußtsein für den künstlerischen Film verlorengegangen. Überlebt hat nur der industrielle Aspekt, der damals von der UFA vorangetrieben wurde und Filme hervorbrachte, die von der mörderischen Gegenwart ablenken sollten. Wie wir wissen, hat der Nationalsozialismus ja viele Filmkünstler ins Ausland getrieben. In anderen Ländern wurde nicht eine so große Wunde in die Kultur geschlagen. In Russland z.B. hatte Andreij Tarkovskij Unterricht bei Mihail Romm. So eine Kontinuität gab es in Deutschland nicht. Die mögliche Linie der Weitergabe von Erfahrung und Wissen von Regisseuren wie Murnau oder Lang war für immer durchschnitten. Das ist bis heute spürbar. Viele Aspekte des künstlerischen Films sind seit der Zeit des deutschen Expressionismus oder der Arbeiten von z.B. Murnau oder Lang untergegangen. Heute herrscht in Deutschland eine sehr eingeschränkte Vorstellung von dem, was Kino ist, und auch von dem, was Realität ist. Daß das Kino keine naturalistische Abbildung der Realität liefern muß und dennoch von der Realität sprechen kann, von der ganz nahen, uns umgebenden, gar nicht fernen, exotischen oder phantastischen, wird nur schwer akzeptiert. Entweder etwas muß vollkommen aus dem Reich der Spinnerei stammen, oder es muß von trockenstem, langweiligstem, unsinnlichstem Naturalismus beherrscht sein. Aber der Film ist eine poetische Sprache, und das Poetische ist Bestandteil der Wirklichkeit.

Der sogenannte Neue Deutsche Film war meinem Eindruck nach eine Explosion von einigen jungen Leuten, die das Glück hatten, zu einer bestimmten Zeit auf experimentierfreudige und mutige Geldgeber, auch in den Redaktionen, zu treffen. Das war wie ein Überraschungsangriff. Die, die diese Filme ermöglichten, sind vielleicht von dieser Kraft mitgerissen worden. Später erwachten sie dann, und das war dann das Ende. Dahinter steckte offenbar kein gemeinsamer Wille, dem künstlerischen Kino in Deutschland einen stabilen Boden zu bereiten. Es hat sich ja nicht gehalten, es ist keine Tradition, keine dauerhafte Qualität oder ein Bewußtsein daraus entstanden, wie beispielsweise im französischen Kino. Dort weiß man wohl, daß es ein Kino gibt, das geschützt werden muß, das man nicht einfach den Gesetzen des Marktes aussetzen kann. Dafür gibt es in Deutschland kein Bewußtsein. Mein Anknüpfungspunkt, was Filmtradition betrifft, ist in diesem Land zwangsläufig die Zeit vor 1933, der deutsche Expressionismus und spätere Weiterentwicklungen, wie etwa der film noir. Dort bin ich auf Formen der Filmsprache und Themen gestoßen, die mir nah sind und auch der Zeit, in der wir heute leben.

Das Andere und das Kino
Meine Arbeit als nicht „fernsehtauglich“ zu bezeichnen, ist eine Art, sich auf die immer gleich funktionierenden Geschichten als Klischee zu beschränken. Ich denke, daß gerade das künstlerisch anders Gestaltete besonders „fernsehtauglich“ ist. Da lohnt es sich dann eigentlich erst, das zu zeigen und sich dafür einzusetzen. Das Fernsehen könnte im Grunde experimenteller sein als das Kino. Es könnte sich das leisten, und seine Form bietet das geradezu an.

Auch wenn ich mir grundsätzlich vorstellen kann, auch Lust zu haben, einen TATORT zu drehen, glaube ich nicht, daß unbedingt andere sich das vorstellen können und mir anbieten würden. Der Mut zu etwas anderem als dem Gewohnten ist in solchen Formaten nicht verbreitet. Das ist so eine Krankheit in diesem Land: diese Angst vor dem Anderen. Das ist ja nicht nur eine Ablehnung von anderen Erzählformen im Kino. Das durchzieht die ganze Gesellschaft: Ablehnung von Menschen aus anderen Kulturen, anderen Ländern, mit anderem Verhalten, anderen Vorstellungen etc. Alles Andere wird erst mal als schlecht betrachtet, weil es fremd ist. In den USA ist das in bestimmten Bereichen, wie der Kultur, genau andersherum. Da weckt das Andere erst einmal Neugier, Interesse. Eine sinnliche Neugier ist doch das, was den Zuschauer im Kino auszeichnet. Er will doch etwas sehen, was ihn bereichert, was ihm ein Mensch von seiner Welt, von seinem inneren Kontinent zu erzählen weiß.

Die Leinwand im Kino ist wie eine magische Kugel, in die man hineinschaut und wo man eine Realität entdeckt, die etwas zeigt, was unter der offensichtlichen Wirklichkeit verborgen ist. Mich interessiert die Darstellung einer inneren Realität, die essentielle Gefühle und Konflikte zum Thema hat, die jeder in sich nacherleben kann. Eine innere Wirklichkeit, die ich zwar subjektiv wahrnehme und künstlerisch darstelle, die aber meiner Ansicht nach archetypische Erlebnisse entstehen läßt, die universell nachvollziehbar sind. Das Kino bietet die Gelegenheit eines Dialogs der Geister. Dem Geist des Filmemachers und dem neugierigen Geist des Zuschauers.

Das Andere ist insgesamt ein zentraler Begriff für mich. Es bezeichnet auch die Realität, wie ich sie wahrnehme und dann in Filmen reflektiere. Dabei interessieren mich immer Geschichten, die auch etwas Archaisches haben und sich nicht im Alltagskram verlieren. Universelle Geschichten, Vorgänge, Situationen, die Menschen schon immer bewegten. Das Konkrete verweist immer auf das Generelle. Der Konflikt zwischen zwei Menschen wirft auch immer essentielle Fragen auf, die, unabhängig von Kultur und Epoche, nicht nur mich, sondern jeden betreffen. In einem Tropfen Wasser ist das ganze Meer.
Daß man das Andere auch mit anderen Mitteln darstellen muß, ist für mich selbstverständlich. Wenn die üblichen narrativen Formen des Kinos nicht ausreichen, die Wirklichkeit zu zeigen, die ich zeigen möchte, und nur eine verstümmelte, sehr einseitige und ideologische Darstellung der Dinge zulassen, dann muß ich andere Mittel benutzen. In einer Gesellschaft von Menschen, die nur Suppe essen würden und daher nur den Löffel kennten, müßte einer, der auf die Idee käme, Fleisch zu essen, irgendwann ein Messer erfinden. Mit einem Löffel läßt sich Fleisch schwer schneiden.

Randgebiete ins Zentrum der Leinwand
ABENDLAND thematisiert Arbeitslosigkeit, Isolation, Liebesunfähigkeit, Perspektivlosigkeit. Aber das sind eigentlich keine Randgebiete unserer Gesellschaft, sondern Gebiete, die zwar gerne übersehen werden, aber nicht nur wenige Menschen angehen. Menschen sehen nicht gerne dahin, wo es weh tut, und das ist erst mal verständlich. Wir wollen den Finger nicht in die Wunde legen, sondern versuchen, der Wunde zu entkommen. Entkommen durch Vertuschen, durch alle möglichen Ablenkungen. Aber nur durch den Blick auf die Wunde besteht ja erst die Möglichkeit zu verstehen und vielleicht einen Weg darüber hinaus zu finden. Permanentes Zudecken und Darüberhinwegsehen läßt den Eiter unter der Beule immer weiter wachsen, bis sie irgendwann aufplatzt.
Ich glaube, daß die gezeigten Wunden in ABENDLAND sehr menschlich sind und jeden angehen, also weit entfernt vom Rand, vielmehr im Zentrum von jedem Menschen sich befinden. Denn es lohnt sich hinzugucken. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Auseinandersetzung wenig Platz hat. Der Tod ist ein Tabu, Schwäche ist ein Tabu, ebenso Trauer und Armut. Das Lachen und das Schenkelklopfen sind fast zu einer Ideologie geworden. Daraus besteht das Leben aber nicht nur. Um sich mit diesen Tabus auseinander zu setzen, ist der melancholische Blick der geeignete. Der melancholische Blick ist ein ruhiger und ein durchdringender Blick, der Erkenntnis fördert, weil er verweilt. Im Zustand von übermäßiger Euphorie und blinder Begeisterung ist man immer sehr hektisch und unaufmerksam. Der melancholische Blick versucht erst mal zu beobachten und zu verstehen. Die langen Plansequenzen in meinen Filmen versuchen einzudringen in die Zwischenräume des Wartens, des Zögerns. In die Momente, in denen man nicht handelt, sondern unentschieden ist. Es passiert nicht so wahnsinnig viel in diesem Leben wie wir ersehnen und wie uns viele Filme vormachen. Der Raum zwischen zwei Handlungen, ja zwischen zwei Gedanken, ist dieser melancholische Raum, den das Kino auch einfangen kann. Wenn man dann etwas sieht, das weh tut, dann wird dieser Blick traurig. Die Illusion vom Helden, der von einer Aktion zur anderen springt, widerspricht meiner Lebenserfahrung. Die Idee der Tragödie ist leider aus dem zeitgenössischen Kino, und besonders hier in Deutschland, ziemlich verschwunden, obwohl sie im Theater der Antike eine eigene Gattung bildete. Es gab Autoren, die nur Tragödien schrieben, und welche, die nur Komödien schrieben. Zu einer Tragödie gehört aber zum Beispiel der tragische Schluß, und nicht, wie heute so oft gefordert, was Plüschiges und Versöhnliches.

Oshimas ZEREMONIE zeigt die Verbindung dreier Menschen, die konsequent tragisch endet. Am Ende einer Reise kommen der Mann und die Frau auf einer Insel an dem Haus an, in dem sich der bisherige Geliebte der Frau umbringen will. Sie wollen ihn davon abhalten. Auf der Reise hatte die Frau ihrem Begleiter gesagt, daß sie auf der Insel bliebe, wenn der andere Mann gerettet werden könnte. Insgeheim hofft ihr Begleiter, die Rettung würde mißlingen, damit der Weg zu ihr endlich frei würde. Die drei sind eng verbunden seit Kindertagen.
Sie betreten das Haus, überall hängen blutverschmierte Tücher, die Kamera macht eine Wendung und entdeckt den nackten toten Körper des Mannes im Hof. Die Frau kniet sich daneben. Der Begleiter sagt zu ihr, sie sollten fortgehen. Sie will bleiben. Er erwidert, er wolle nicht ohne sie gehen. Sie antwortet, dann müsse er ihr beim Sterben zusehen. Sie fesselt sich mit einem Taschentuch die Füße und Hände, schluckt eine Kapsel, legt sich neben den Toten und stirbt. Der Mann verläßt das Haus, geht an den Strand und verliert den Verstand. Seine Hoffnungen wurden nicht erfüllt, weil etwas stärker war zwischen der Frau und dem toten Mann. Ein auswegloses, ein tragisches Ende.
Wenn man heute so ein Ende schreiben würde, dann würde jeder Dramaturg, jeder Redakteur wenigstens einen versöhnlichen Schluß vorschlagen. Man solle doch die beiden aus dem Haus gehen lassen, sie im Boot aufs Meer hinausfahren sehen, um wenigstens einen Hauch von Hoffnung zu geben. Aber dieser Schluß wäre ein Betrug am Zuschauer, eine lächerliche Entkräftung des Tragischen.

Die Menschen ohne Sprache in ABENDLAND
Anton ist ein Mensch, der seine Sprache verloren hat, weil er nicht mehr an sie glaubt oder weil sie ihn nicht mehr ausdrückt. Gerade durch das Reden erreicht man selten eine wirkliche Änderung. Das endet dann oft in endlosen Beziehungsgesprächen, die nichts lösen. Anton glaubt auch nicht mehr an die Kommunizierbarkeit dessen, was er erleidet. Er drückt sich im Schweigen besser aus. Es gibt Schmerz, der stumm macht. In unserer Gesellschaft, die immer mehr auf Kommunikation setzt, aber eigentlich nichts wesentliches kommuniziert, gibt es immer mehr Menschen ohne Sprache. Viele Menschen, die nicht mehr in einer angemessenen Weise kommunizieren können, oder die für das, was sie ausdrücken wollen, keine Sprache haben, fallen einfach unter den Tisch. Und plötzlich sind sie einfach nicht mehr da. Weil Vorhandensein nur noch an kommunizierbare Realität geknüpft ist. Nur das Kommunizierte ist existent. Was nicht mehr kommuniziert wird, worüber einer nicht sprechen kann, das ist schlechterdings nicht da. Ich glaube, es gibt eine ganze Menge Leute ohne Sprache, die dann zu einem Mittel wie Gewalt greifen, um sich zu artikulieren. Das ist dann eine Form von Sprache, die nicht mehr kreativ versucht, Gedanken in Fluß zu bringen, sondern nur noch ausbricht; wie ein Schrei.
Anton schlägt in der ersten Szene den Kopf der Arbeitsamtangestellten an die Wand, weil er diesem System von Ignoranz und Arroganz nichts mehr entgegenzusetzen hat. Seine Gefühle sind so tief verzweifelt, daß er über sie nicht mehr kommunizieren kann.
Anton ist stumm geworden, weshalb er die Anwesenheit von Gefühlen nicht mehr beweisen kann, besonders was Beweise seiner Liebe zu Leni betrifft. Liebesbeweise hängen sehr von Sprache ab, von der Sprache der Worte, der Sprache der Gesten. Liebe, die sich nicht mehr in diesen Ausdrucksmitteln vermittelt, ist für den anderen unsichtbar. Vielleicht ist es für Anton schon der größtmögliche Liebesbeweis, daß er überhaupt noch zum Arbeitsamt geht, daß er überhaupt noch versucht zu überleben, anstatt im Bett liegen zu bleiben und zu warten, bis er verschimmelt ist. Wenn Leni ihn im Streit daraufhin verläßt, dann ist das nur die Folge einer völlig fehlgeschlagenen Kommunikation. Die erwarteten Liebesbeweise bleiben aus, Leni zweifelt die Liebe an. Dann kommen die Vorwürfe und der Schmerz, die Verletzungen steigern sich. Dann bleiben nur noch Zweifel und Verzweiflung. Scheinbar empfindet keiner von beiden mehr etwas für den anderen, obwohl die Liebe real noch genauso existiert, nur ist das Gefühl überlagert von Mißtrauen, Wut usw. Ich kenne Geschichten von Leuten, wo der Mann arbeitslos geworden ist und deshalb nicht mehr mit seiner Frau schlafen konnte. Da beginnt eine Kettenreaktion, alles wird angezweifelt und endet im Drama. Wenn das Selbstwertgefühl zerstört ist, z.B. durch den Verlust der Arbeit in einer Gesellschaft, die sich über die Arbeit, den Profit etc. definiert, geht langsam auch alles andere zugrunde; das Gefühl zu sich selbst, zu anderen, jedes Vertrauen.

Orte der Einsamkeit
Die Umgebung, die Orte in ABENDLAND ergeben einen Lebensraum betäubender Einsamkeit. Die Kneipen, die Hinterzimmer, die Bordelle, die dunklen Straßen mit den abgerissenen Häuserwänden werden zum Spiegel einer Gesellschaft, in der wir selbst tatsächlich auch leben. Hier gibt es auf der materiellen Ebene nichts mehr zu gewinnen. Der Freier, der Leni auf dem Rücksitz seines Autos fickt und sie, als sie sich sträubt, in den Schlamm stößt, ist im Grunde genauso einsam wie alle anderen. Beide sind einsam, und beide benutzen einander. Ob die Menschen versuchen, sich vor sich selbst zu verstecken, durch den ablenkenden Konsum von anderen Dingen und anderen Menschen, oder ob sie versuchen, durch immer neue Geschäfte bis zum Verkauf eines Kindes als Objekt der Begierde immer mehr Geld anzuhäufen, es nützt ihnen nichts, es erlöst sie nicht. Auf dieser Ebene gibt es nichts mehr zu gewinnen. Gewinnen könnte man nur da, wo man sich tatsächlich begegnet, wo es zu einer tiefen und echten Verbindung kommt, vor allem mit sich selbst. Dazu gehört aber die Überwindung des eigenen Egos, und das ist natürlich das Allerschwerste.

Opferung ist kein Ausweg
Der Glockengießer versucht in ABENDLAND unter anderem seine verschwundene Tochter dadurch wiederzufinden, daß er an die Würde er anderen appelliert. Er findet in Anton denjenigen, der ihm bei seinem Opfer zu helfen bereit ist. Er selbst will als lebender Glockenklöppel sein Leben geben, im Tausch für das seines Kindes. Er glaubt an die Idee des symbolischen Tausches. Die Basis jeden religiösen Denkens ist der Glaube an die Kraft des symbolischen Aktes. Doch das Opfer des Glockengießers wird nicht angenommen. Anton wird das tote Mädchen am Flußufer finden, getötet von einem Pädophilen im Hinterzimmer einer Bar. Den Gott, dem sich der Glockengießer opfern wollte, gibt es entweder nicht, oder er wollte sein Opfer nicht. Das bleibt völlig offen. Vielleicht ist jemand, der für das, was er liebt, zu opfern bereit ist, lebendig wichtiger und notwendiger als tot.
Auf dieser pathetischen Märtyrerebene ist wahrscheinlich nichts zu erreichen. Davon spricht der Film auch. Die einzigen, die etwas erreichen können, sind die Büglerin Leni und der arbeitslose Anton, wenn es ihnen gelingt, zu einer Form des Liebens zurückzufinden. Das ist die einzige Möglichkeit, der Barbarei um sie herum etwas entgegenzusetzen. Das ist der ultimative Akt von Würde, der uns noch bleibt: Eine Liebe zu realisieren, sie zu schützen, für sie zu kämpfen und für sie auch das eigene Ego zu überwinden. Anton ist am Anfang des Films komplett im Gefängnis seines Egos gefangen. In diesem Kokon ist es nur dunkel, perspektiv- und sprachlos. Diesen Kokon aufzubrechen, das ist ein Weg. Das geht letztlich über die Form der Zweierbeziehung hinaus. Aber wenn man es nicht schafft einen einzigen Menschen zu lieben, dann wird man es auch nicht schaffen, die anderen zu lieben. Dazu muß man allerdings sich selbst lieben können. Einen Menschen lieben, das heißt ihn erkennen, ihn zulassen, sich ihm hingeben, sich ihm anvertrauen. Das ist eine Art Opfer, aber eben nicht auf der großen pathetischen Ebene.
Nur wenn es auf dieser individuellen Ebene gelingt zu lieben, dann ist eine Form von Erlösung (welch ein großes Wort!) möglich. ABENDLAND verweist die Erlösungsphantasien der Gesellschaften ins Individuum zurück. Wie kann man es schaffen, aus seiner eigenen Egokapsel rauszukommen, sich dem anderen zu öffnen und sich zu verständigen? Die Antwort auf diese Frage weist wahrscheinlich den einzigen Weg aus der Destruktivität unserer barbarischen, egomanischen Gesellschaft, in der es immer mehr nur darum geht, wer den anderen schneller frißt.
Gegen Ende steht eine Gruppe von Menschen stumm und schauend am Ufer um das tote Kind. Anton nähert sich, nimmt dem Leichnam das beschwerende Hufeisen ab und trägt es zum Vater zurück. Anton gibt dem Kind in diesem Moment seine Würde zurück. Er handelt als Individuum und nicht als Teil einer Gruppe, sondern allein in eigener Verantwortung.

Das Geheimnis – Ein Nachsatz zur filmischen Metaphorik
Die Bilder des Kinos sind Metaphern, die immer mehrere Dimensionen haben. Tarkovskij sprach sich nicht ohne Grund gegen die vulgäre Symbolik im Film aus. Symbole haben nur eine Verweisdimension, so wie das Strichmännchen mit Pfeil drunter, das auf ein Klo hinweist. Metaphern sind das, was sie sind, und weisen darüber hinaus noch auf etwas anderes hin. Metaphern schaffen einen poetischen Assoziationsraum, der den Dingen und Vorkommnissen etwas läßt, was bei Heidegger der Geheimnischarakter der Dinge heißt. Ein gutes Beispiel ist der verlorene Schwan im Kohlenfrachter in ABENDAND. Einmal stellte ein deutscher Journalist die Frage, wofür denn dieser Schwan ein Symbol sei. – Die Antwort: Ein Schwan ist ein Schwan! Ein Schwan ist ein Vogel, der einen gewissen Anlauf braucht, um zu starten. Er ist in der Ladefläche eines Kohlenfrachters gefangen. Wichtig wird er erst in Bezug auf Anton, der ihn da rausholt. Dieser Zusammenhang sagt viel aus über Anton, der am Ufer des Flusses steht, sich den eintätowierten Namen von Leni schmerzhaft aus den Fingern schneidet und dann die hilflosen Geräusche des Schwans hört. Man kann den Schwan nicht einfach aus der Szene schneiden, ihn isolieren und als Symbol betrachten. Er ist kein Symbol!
Die besten Filmregisseure haben es immer verstanden, ihren Geschichten, ihrer Vision und ihren Figuren das Geheimnis zu belassen. Symbolhafte Erklärungssucht führt dabei unweigerlich zum Klischee, zur Reduzierung aufs Eindimensionale. Diese Idee des Geheimnisses ist als Lebenseinstellung viel sinnvoller, als alles rational durchdringen zu wollen. Alles erklären zu wollen kommt aus dem Drang, alles besitzen zu wollen. Das, was wir nicht erklären können, macht uns Angst, weil wir es nicht vollständig beleuchten können. In japanischen Häusern gibt es oft eine Nische, in der ein Bild hängt. Diese Nische versteckt dieses Bild in einer Zone des Halbdunkels. Durch diese Abwesenheit von Licht wird für das Bild ein Geheimnisraum geschaffen, der eine würdelose Ausleuchtung verhindert. Nicht das Licht fördert die Erkenntnis, sondern der Mut, den Dingen ihre Schattenzonen zu belassen. Wenn eine Kugel voll beleuchtet wird, dann erscheint sie als Scheibe ohne Volumen. Das Seitenlicht erst, das der Kugel einen Schatten läßt, hilft die Kugel zu begreifen. Wir haben verlernt, den Dingen und den Menschen ihre Schattenzonen zu belassen, und sie sich im Dunkel bewegen zu lassen. Die Angst vor der Dunkelheit verhindert die wahrhaftige Behandlung des Undurchsichtigen und Komplexen. Der Mensch ist sich selbst unheimlich, aber es bringt nichts, aus Angst alles ins Licht zu rücken. Das Zulassen des Dunkels ist ein Schlüssel zur Erkenntnis.
Diese Krankheit, alles auszuleuchten, sich alles einverleiben zu müssen, gehört auch zu dieser Angst vor dem Geheimnis. Für mich ist es zum Beispiel sehr wichtig, den Schauspielern, mit denen ich arbeite, das Geheimnis zu lassen, das sie auch im Leben für mich haben. Die Schauspieler bekommen zwar Grundlinien für die Figur, aber ich lasse ihnen Raum, um die Figur zu erarbeiten, mit Hilfe ihrer eigenen Persönlichkeit. Als mich z.B. eine Schauspielerin fragte, wie denn die Frau rauche, die sie darstellen sollte, sagte ich ihr, sie rauche wie die Schauspielerin selbst raucht, es sei ganz einfach. Denn ich habe sie ja ausgesucht, weil sie meinem Bild von der Figur entspricht. Und mit ihrem Sein bringt sie natürlich sehr viel von ihrem eigenen Geheimnis in den Film ein. Die Länge der Einstellungen gibt in diesem Zusammenhang Gelegenheit, das Geheimnis des menschlichen Gesichts zu betrachten. Ein Akt der Würde gegenüber dem Zuschauer und gegenüber dem Schauspieler. Das Gesicht ist dann nicht nur Abbildung in einer standbildartigen Großaufnahme, das sofort wieder weggeschnitten wird, sondern es bekommt Leben. Dadurch wird nach meinem Gefühl das Gesicht erst menschlich. Wenn ich es etwas länger zeige, dann gebe ich dem Gesicht und dem Bild insgesamt den Atem und die Würde zurück. Es informiert nicht nur darüber, daß es sich hier um ein Gesicht handelt, sondern es wird in all seinem Reichtum erkennbar.

Filme reden über Menschen. Unsere Kultur ist voller Menschendarstellungen, Porträts etc. in der Malerei, im Theater, in der Philosophie, im Kino. Jeder Mensch betrachtet den anderen, um sich im anderen zu sehen. Denn der Mensch ist sich selbst unheimlich, er braucht den Blick ins andere Gesicht, um sich selbst auf die Spur zu kommen.

Berlin, im März 2000
Gesprächspartner war Till Müller-Edenborn
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Aus: NACHTBLENDE, Filmzeitschrift, No. 17, Herbst 2000, 8.Jahrgang