» Ich bin wahnsinnig wütend | Mit Fred Kelemen sprach Dorothee Wenner | Aus: Film und Fernsehen, Potsdam 1997, Heft 5+6, herausgegeben vom Filmverband Brandenburg
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Ich bin wahnsinnig wütend

D.W.: Bevor eine Filmidee zu einem »Projekt« wird, mit Drehbuchschreiben, Bewerbungen um Fördergelder, Produzentengesprächen, Casting usw., muß es diesen einen Moment geben, wo für Dich ein neuer Film beginnt.
F.K.: In »Verhängnis« war es zum Beispiel dieser Mann, den ich in einer Kneipe beobachtete, ein Flüchtling aus Jugoslawien. In dieser Kneipe saßen fast nur jugoslawische Flüchtlinge – und tranken. Über dem Tresen hing ein Fernseher, dort lief MTV. In diesem Moment war so eine unglaubliche Diskrepanz wahrzunehmen, die bunte MTV-Welt und die Welt, aus der dieser Mann kommt. Dieser Widerspruch reizte mich. Ich wollte wissen, was dieser Mann macht, wenn er aufsteht.
Es sind solche Szenen, Bilder oder auch Geschichten, die ich von Bekannten höre oder auch von völlig Unbekannten, denen ich in irgendwelchen Kneipen begegne. Sie werden zum Ausgangspunkt für einen Film, wenn sie etwas Exemplarisches haben, exemplarisch für die Zeit, in der wir leben.

D.W.: Gibt es bestimmte Orte, wo Du Dich zu »Inspirationszwecken« gerne herumtreibst?
F.K.: Nun, ich lebe nicht in einer Grunewald-Villa und presse Geschichten aus mir heraus! In meinem nächsten Film »Abendland« geht es um Arbeitslosigkeit und Liebe. Und ich kenne das Gefühl, arbeitslos zu sein – eigentlich bin ich immer arbeitslos, wenn ich nicht drehe. Ich kenne auch das erdrückende Gefühl, kein Geld zu haben. Bei den Vorbereitungen für »Abendland« habe ich mich oft in Ostdeutschland aufgehalten, zum Beispiel war ich einige Zeit in einem Ort, in dem 90% der Leute keine Arbeit haben. Später war ich einmal in diesem kleinen Dorf »Zinnwald«, wo ich nachts in einer Kneipe Männer gesehen habe, die Stunde um Stunde Dart spielten, aber kein Wort redeten. Dieses Schweigen bedeutet mir sehr viel, ich möchte in meinen Filmen dieses Schweigen erhalten. In unserer Gesellschaft gehört Sprachfähigkeit nur zu einer bestimmten Schicht, die es normal findet, »über etwas zu diskutieren«. Sehr viele andere Menschen artikulieren sich viel mehr durch das, was sie tun: durch Gewalt und Aktionen, und durch Schweigen. Das Schweigen macht ihr Leben zu einem stummen Erleiden, und das genau ist die Eigenschaft des Protagonisten in »Abendland« - ein arbeitsloser Held, der nicht mehr kämpft.

D.W.: Was macht Arbeitslosigkeit für Dich zu einem so existentiellen Thema?
F.K.: Wenn Du keine Arbeit hast, gibt es plötzlich unendlich viel Zeit zum Nachdenken. Es ist der Verlust des Luxus, acht Stunden am Tag zu wissen, wohin man gehen kann, wo man aufgehoben ist. Für unsere Elterngeneration hat Arbeitslosigkeit etwas mit Statusverlust zu tun, mit materieller Not und ökonomischem Druck. Das gibt es heute natürlich auch, vielleicht sogar noch krasser als früher. Was die heutige Arbeitslosigkeit aber existentieller macht, ist die Leere, die einen umgibt, wenn man arbeitslos wird. Wahrscheinlich hat das etwas damit zu tun, daß die Beziehungen der Menschen untereinander kälter geworden sind. Die Folgen der Arbeitslosigkeit spürt man auch in den allernächsten sozialen Beziehungen, die ja nicht deswegen kaputt gehen, weil man kein Geld mehr hat. Ich kenne zum Beispiel Geschichten von Männern, die arbeitslos wurden und sich plötzlich nicht mehr von ihren Frauen anfassen lassen konnten. Das ist zwar keineswegs ein nationales Problem, aber in vielen anderen Ländern ist Armut nicht so neu wie hier. In Deutschland aber ist man an Arbeitslosigkeit und die Folgen nicht mehr gewöhnt, und gleichzeitig definiert man sich sehr stark über Arbeit. Deswegen gibt es hier einfach keinen Platz für ein Leben in Würde, wenn man arbeitslos und arm wird.

D.W.: Mit dem, was Du als Anliegen Deines nächsten Filmes beschreibst, hättest Du vor 20 Jahren in das Raster des politisch engagierten Filmemachers gepaßt.
F.K.: Ich verstehe mich auch als politischen Menschen, wenn auch nicht vordergründig ideologisch. Ich bin wahnsinnig wütend auf gewisse Zustände und Ungerechtigkeiten. Was mich am meisten aufregt, ist die Art, mit der so viele Leute überlistet und überrannt werden, weil sie rhetorisch nicht bestehen können. Diese Leute werden heutzutage wegberuhigt. Es gibt überhaupt ein großes Bestreben, alles zu beruhigen und den Sprengstoff, der da ist, zu entschärfen. Warum läßt man die Leute gegen Wände laufen, bis sie nicht mehr können? Gleichzeitig haben alle so viel »Verständnis«, aber dieses »Verständnis« führt zu keinen Veränderungen, weil keiner bereit ist, persönliche Verantwortung zu übernehmen.

D.W.: Übernimmst Du beim Filmemachen so verstandene persönliche Verantwortung?
F.K.: Ja. Aber ich übernehme natürlich keine Verantwortung für Arbeitslosigkeit an sich – das wäre absurd. Ich glaube an den Film als Film. Und da geht es mir in »Abendland« um die Notwendigkeit und den Druck, auch über Arbeitslosigkeit zu reden. Filmemachen bedeutet für mich, zu reflektieren, über die Gegenwart, über die Zeit, in der wir leben. Ich finde es unglaublich zynisch, wenn man Filme macht, die an der Realität vorbeigehen. Es ist sogar bewußt zynisch, etwas zu sehen und es nicht zum Thema zu machen: zynisch gegen die Menschen.

D.W.: Arbeitslosigkeit – um bei Deinem nächsten Thema zu bleiben - ist ein gutes Beispiel für einen Filmstoff mit Gegenwarts- und Realitätsbezug, der nicht gerade populär ist, wenn man damit bei einem Fernseh-Redakteur oder Produzenten auftaucht.
F.K.: Mir sind die Kriterien, nach denen Drehbücher angenommen oder abgelehnt werden, ohnehin zu wenig transparent. Vor allem die Konstruktion des Zuschauers und die Vermessenheit von Gremien oder Redakteuren, wissen zu meinen, was »der Zuschauer« sehen will – oder nicht. Dieser homogene, mehrköpfige Drache des illusionären Zuschauers – das ist ein unglaublicher fake, ebenso wie die Einschaltquoten. Es ist eine Simulation von Wirklichkeit, die für viele der Geldgeber zu einem verhängnisvollen Korsett wird. Mit der Begründung, daß »der Zuschauer« dieses oder jenes nicht sehen will, werden Drehbücher abgelehnt. Aber eigentlich sind es die Geldgeber, die nicht wollen, daß die Wirklichkeit in ihre und unsere Wohnungen dringt.

D.W.: Dabei bedeutet die Gunst des Zuschauers ja nichts anderes als kommerziellen Erfolg.
F.K.: Der ist aber nicht kalkulierbar, und alle Regeln, die diesen Erfolg planen wollen, sind absurd. Ich könnte mir zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen, ein Drehbuch mit dem Ziel schreiben zu müssen, daß es dieser fiktiven Konstruktion des mehrköpfigen Drachens gefallen soll. Tatsächlich gibt es auch kein Schema, das funktioniert, sonst würden ja aus so vielen, im voraus hochgejubelten, Filmen keine Flops! Am meisten aber ärgert es mich, daß hinter der derzeit so oft geforderten »Professionalisierung« nicht nur des Drehbuchschreibens ein schreckliches Weltbild steckt. Als seien Zuschauer wie Automaten, deren Gefühle beim Betrachten eines Films voraussehbar, schematisierbar wären! Und die Grundlage dafür sind dubiose Einschaltquoten oder auch das Schielen nach gewissen amerikanischen Vorbildern. Das ist ein sehr destruktives Verhalten, mit dem filmische Vielfalt verhindert wird. Es schränkt die Zuschauer in ihren Möglichkeiten, Filme zu sehen, sehr ein und verdummt sie.

D.W.: Wie müßte Deiner Ansicht nach eine Filmförderung aussehen, die sich den Erhalt filmischer Vielfalt zum Programm macht?
F.K.: Ich sehe es generell als problematisch an, wenn nur eine Person über Filmprojekte entscheidet. Ich würde mir Gremien wünschen, in denen Leute sitzen, die tatsächlich im Filmbereich arbeiten oder gearbeitet haben. Ausstatter, Kameraleute, Produzenten und ausländische Filmschaffende – nicht nur Deutsche - wären für solche wechselnden Gremien wünschenswert. Auch Ältere sollte man einbeziehen, die vielleicht nicht mehr im Filmbereich arbeiten, die aber an der Entwicklung einer früheren Tradition beteiligt waren. Wichtig finde ich, daß der nicht-kommerzielle Wert von Filmen beurteilt wird und nicht nur der vermeintliche ökonomische Erfolg. Kassenerfolge sind ja auch nicht unbedingt Filme, die bleiben. Es ist eine Sackgasse, wenn Drehbücher, Regisseure und Schauspieler nur nach ihrem augenblicklichen Marktwert beurteilt werden. Filmische Vielfalt hat etwas mit Risikobereitschaft zu tun. Es gibt jedoch in Deutschland – mehr als z.B. in Amerika – eine große Angst, sich auf etwas Unkalkulierbares einzulassen. In Amerika wird auch diese merkwürdige Diskussion, ob Film Kunst oder Kommerz ist, gar nicht geführt – dort gehört selbstverständlich in jedes große Museum eine Filmabteilung! In den USA ist Film selbstverständlich eine moderne Kunstform, und dementsprechend ist man dort Experimenten gegenüber viel aufgeschlossener. Aber hier – im Abendland – ist alles Neue, Fremde gefährlich. Mir kommt es oft so vor, als würden in Deutschland Filme immer mehr nach Sicherheitsvorgaben verwaltet und geplant. Es ist wie mit Flüssen: Wenn man sie begradigt, gleicht am Ende ein Fluß dem anderen. Filmische Vielfalt hat sehr viel mit Raum zu tun, den man ausnützen sollte. Wenn man diesen Raum einschränkt, führt das zu Ödnis.

D.W.: Das Phänomen schwindender filmischer Vielfalt braucht aber auch Regisseurinnen und Regisseure, die bereit sind, solche Filme zu machen, die sich immer mehr ähneln.
F.K.: Es gibt ganz unterschiedliche Motive für Leute, Filme zu machen. Genau wie bei den Medizinern, die ja auch nicht unbedingt diesen Beruf ergreifen, um Menschen zu heilen, sondern um Geld zu verdienen. Als Filmemacher ist es wichtig, auf seinen eigenen Visionen zu beharren und den Bürokraten das Feld nicht kampflos zu überlassen.

D.K.: Filmische Innovation ist zwar nicht unbedingt an das Alter der Filmschaffenden gebunden, aber trotzdem hofft man vor allem von jüngeren Leuten Filme zu sehen, die neu sind.
F.K.: Ich würde mir wünschen, daß die jüngere Generation von Filmemachern aggressiver und mutiger wäre. Viele Leute geben heute zu schnell auf, wenn es darum geht, etwas Neues, Eigenes durchzusetzen. Man muß beharrlich sein! Wenn all diese Gremien massenhaft mit Drehbüchern, die »anders« sind, bombardiert würden, würde das sicher auch die filmische Vielfalt fördern. Ich habe aber festgestellt, daß zum Beispiel an der dffb, wo ich studiert habe, der Freiraum zum Experimentieren kleiner geworden ist, was vielleicht auch an der Konkurrenz unter Filmemachern liegt. Es gibt dort Leute, die schließen sich tatsächlich im Schneideraum ein! Ich habe die dffb als ein Laboratorium verstanden, ich wollte erst einmal herausfinden, was für mich ein Film überhaupt ist. Heute gibt es dort aber nicht wenige Studenten, die wollen sogar ihren ersten Film schon verkaufen, - das macht viele Filme sehr glatt. Dabei gibt es gerade im Umfeld der Filmschulen und der jüngeren Generation etwas zu verteidigen, was sonst verloren geht.

D.W.: Hast Du mit dem dffb-Abschluß die Experimentierphase abgeschlossen?
F.K.: Ich nehme mir bei jedem Film Sachen vor, die ich noch nie gemacht habe. In »Abendland« ist es zum Beispiel die Konstellation von vier Hauptpersonen, die neu für mich ist.
Ein wirkliches Experiment wird dieser Film, weil ich alle Szenen sowohl auf Film wie auch simultan auf Video drehen will. Das Material soll im fertigen Film dann gemischt werden. Es soll zwei Arten des Sehens oder: einen filmischen und einen dokumentarischen Blick geben. Und das Experiment besteht darin, diese beiden Blicke am Ende zusammenzubringen.
Ich begreife den Film mit seinem erst hundertjährigen Bestehen immer noch als eine sehr junge Kunst, und wenn es ein ABC der Cinématografie gibt, dann ist es noch lange nicht fertig. Wir sind höchstens beim Buchstaben D.

D.W..: Siehst Du Dich mit Deiner Arbeitsweise in der deutschen Filmlandschaft als Einzelkämpfer?
F.K.: Als Regisseur brauche ich Produzenten, und ein Team - insofern ist es natürlich kein Alleingang, man braucht Verbündete. Außerdem gibt es für mich nichts Schöneres, als wenn Menschen gemeinsam etwas schöpfen.

D.W.: Ich meinte eher das Verhältnis zu anderen Filmemachern.
F.K.: Ich habe Kontakt zu anderen Filmemachern, aber mehr zu ausländischen. In Deutschland sehe ich nicht, daß so etwas wie eine Gruppe existiert, jeder macht seinen Film, seinen Kram. Dabei würde ich es für reizvoll halten, wenn man seine Arbeit mehr der Diskussion aussetzen würde – oder auch bei bestimmten Themen zusammenarbeiten würde. Mit Leuten wie Werner Penzel und Nikolas Humbert, die »Step across the border« und »Middle of the Moment« gemacht haben, oder mit Michael Klier könnte ich mir eine Zusammenarbeit vorstellen.

D.W.: Was ist eigentlich mit Deinem letzten Film »Frost« passiert, der auf dem Internationalen Forum der Berlinale 1997 uraufgeführt wurde, aber seitdem nie wieder zu sehen war?
F.K.: Ich habe vorhin von meiner Wut auf gewisse Zustände gesprochen – und die Geschichte mit »Frost« ist durchaus auch ein Teil meiner Wut und Trauer. Mir geht es in erster Linie um den Film selbst und um die Menschen, die daran arbeiten, und um die, die ihn dann später sehen werden. Bei dem Produzenten von »Frost« handelt es sich um den Verleiher meines vorangegangenen Films »Verhängnis / Fate«, der mit dem Vorschlag an mich herantrat, meinen nächsten Film zu produzieren. Ich vertraute ihm die Produktion von »Frost« an, da ich natürlich davon ausging, daß er meine filmische Vision teilte. Während der laufenden Dreharbeiten wurde allerdings deutlich, daß seine Interessen andere waren und nicht dem Film galten. Das ging so weit, daß das Projekt aufgrund seiner Initiative mehrmals vor dem Zusammenbruch stand. Der Film mußte tatsächlich vor seinem eigenen Produzenten beschützt werden. Nur durch den Zusammenhalt und den ungeheuren Einsatz des Teams und die Unterstützung der Redakteurin des Kleinen Fernsehspiels, Annedore von Donop, gelang es, die Realisierung von »Frost« zu Ende zu führen.
Während der Postproduktion bekamen wir die volle Macht eines Produzenten, und wie er sie ausüben kann, deutlich zu spüren, als dieser sie dann in unglaublich aggressiver Weise einsetzte, um durch eine Verhinderungsstrategie das Projekt zu Fall zu bringen. Uns wurde z. B. notwendiges Material verweigert, Termine mit dem Kopierwerk und der Negativ-Cutterin wurden nicht wie abgesprochen vereinbart oder willkürlich geändert und sehr vieles mehr. Der dadurch entstandene Zeitverlust führte dazu, daß der Film nur in einer noch rohen Form während der Berlinale aufgeführt werden konnte. Mir war es jedoch wichtiger, mein Wort dem »Internationalen Forum des Jungen Films« gegenüber zu halten als den Film zurückzuziehen. Das war auch aufgrund des schon Geschilderten notwendig. Das Leben des Films mußte verteidigt werden. Die etwa zehn Einladungen zu internationalen Festivals mußte ich jedoch absagen, da auch nach der Berlinale von dem Produzenten die Fertigstellung bis heute erfolgreich verhindert wurde. Ich weiß nicht, wann ich die Gelegenheit haben werde, ihn fertigstellen zu können. Unklar ist auch, wann der Film im ZDF gezeigt werden kann. Es gibt, wie man sieht, eine Form des Nichthandelns, die hochgradig destruktiv ist.
Die Produktion von »Frost« bzw. die Arbeit mit seinem Produzenten hat nicht nur mich, sondern das gesamte Team in wirklich extrem elende Lebenssituationen geworfen. Ich selbst konnte das Ganze nur mit großer Mühe durchhalten; zum Teil nur durch Hilfe von Freunden. Ich mußte einen hohen Preis für die Arbeit an diesem Film mit diesem Produzenten zahlen. Daß so etwas möglich ist, daß ein Produzent in unverantwortlichster Weise die Menschen und den Film, den sie mit viel, sehr viel Liebe und Leidenschaft, unter großer Anstrengung geschaffen haben, einfach zerstören kann, läßt natürlich eine himmelschreiende Wut und Traurigkeit entstehen.

D.W.: Gab es Momente, wo Du aufgeben wolltest?
F.K.: Es gab Phasen, in denen ich mich fragte, mit welcher Berechtigung ich 20 oder 30 Leute für so einen Wahnsinn wie einen Film beschäftige. Einen Film zu machen, bedeutet ja auch, seinen sehr persönlichen Traum zu realisieren, für den ich die Lebenszeit anderer Menschen beanspruche.
Ich spüre immer eine große Verantwortung für die Leute, die in einem Projekt mitmachen: Sie wollen nämlich in dem Film mitmachen, den ich ihnen versprochen habe. Ich will sie nicht betrügen – und ich glaube zum Beispiel, daß man Schauspieler betrügt, wenn man sich zu schnell zufrieden gibt mit einer Szene. Und das Team wird betrogen, wenn man zu viele Kompromisse eingeht. Ich möchte einen Film machen, auf den das Team, das diesen Film gemacht hat, stolz sein kann.

D.W.: Inwieweit sind Deine Filme denn »Team-Arbeit«?
F.K.: Ich funktionalisiere Menschen nicht gerne, ich lasse mich beeinflussen und nehme gerne Sachen an. Ich frage auch den Beleuchter nach seiner Meinung zu einer bestimmten Szene. Außerdem ist für mich der Moment des Drehens entscheidend: die Präsenz am Drehort, das ist für mich eigentlich das Wichtigste, das ist meine Sicherheit. Dagegen wäre ich sehr unsicher und gelangweilt, wenn ich 1:1 ein fertiges Drehbuch abarbeiten müßte, - ich schreibe ja auch keine Drehbücher, in denen Dialoge fixiert sind. Die Dialoge werden beim Drehen entwickelt. Meine Drehbücher sind sehr präzise Situationsbeschreibungen, Absichtserklärungen, die sehr genau die Atmosphäre vorgeben und die Bewegungen der Schauspieler und der Kamera. Dennoch bemühe ich mich, beim Drehen einen offenen Raum zu lassen, damit das Leben eindringen kann. Oft verändere ich auch noch am gleichen Tag eine Szene, weil ich morgens, auf dem Weg zum Drehort, auf der Straße irgendetwas erlebt habe, was mich den ganzen Tag beeinflußt und genau zu dieser Szene paßt. Beim Drehen gibt es für mich so ein Gefühl von Hochspannung: Man spürt, was falsch und was richtig ist. Aber diese Hochspannung gibt es nur, wenn noch genug Raum für diese oder jene Möglichkeit bleibt. Diesen Freiraum möchte ich zum Beispiel auch meiner Szenenbildnerin geben, wenn ich ihr Musik vorspiele oder Bilder zeige, die mir wichtig sind. Ich versuche, Leute zu inspirieren.

D.W.: Was sind denn Deine Schwächen als Regisseur?
F.K.: Daß ich manchen Leuten das Gefühl gebe, zu wenig abzugeben. Und meine Unpünktlichkeit. Es kostet mich wahnsinnige Anstrengung, pünktlich zu sein.

D.W.: Wie laufen – nach den schlimmen Erfahrungen mit »Frost« - die Produktionsvorbereitungen zu Deinem neuen Film?
F.K.: Ursprünglich wollte ich »Abendland« in Ostdeutschland drehen, aber das sollte erst deswegen nicht möglich sein, weil ich aus einem westlichen Bundesland Geld bekommen hätte, das an die Bedingung gekoppelt war, dort auch zu drehen. Ich hatte auch einen Schweizer Produzenten, der den Film aber nur machen konnte, wenn wir Schweizer Fernsehgelder bekommen hätten, die wiederum aber nur an prime-time-taugliche Filme vergeben wurden. Das alles ist vielleicht typisch und erklärt das Traurige an der heutigen Situation, viele Projekte scheitern aufgrund solcher bürokratischen Regelungen.
In Deutschland haben die wenigsten Produzenten Geld, sie beschränken ihre Arbeit auf eine Nullachtfünfzehn-Suche nach Geld aus den üblichen Quellen. Da wird neuerdings zwar gerne eine »Professionalität« von Produzenten eingeklagt, die aber am Ende für diesen Beruf nichts anderes bedeutet, als eine genormte Haltung Filmen gegenüber. Auf diese Weise wird Kreativität verhindert, und auch das, worauf es mir am meisten ankommt: Leidenschaft für Filme. Jetzt arbeite ich mit Alexander Ris als Produzenten zusammen, den ich sehr schätze, weil er Filme liebt – und die Finanzierung steht schon zu 2 / 3. Es wird eine deutsch / portugiesisch / französische Koproduktion, in der auch die 700 000 DM drinstecken, die ich für den Bundesfilmpreis bekommen habe. Gedreht wird in Ostdeutschland und in Portugal.

D.W.: Ostdeutschland und Portugal – das sind zwei Länder, die mir von hier aus betrachtet nicht gerade als ähnliche oder gar austauschbare »Kulissen« erscheinen. Mußtest Du wegen der neuen Geldgeber Kompromisse machen, das Drehbuch ändern?
F.K.: Ich werde im Norden Portugals drehen. Der hat große Ähnlichkeiten mit gewissen ostdeutschen Städten: sehr kaputt, grau, steinern, und die Stimmung erinnert an die in Osteuropa. Nein – es waren keine Kompromisse nötig, mit gefällt es sogar, daß der Film jetzt am östlichen und westlichen Extrempunkt Westeuropas entsteht. Und diese Punkte treffen sich – die Farben, die Menschen, die Armut, die Atmosphäre sind sich ähnlich.

D.W.: Was passiert für Dich, wenn ein Film fertig ist? Wie wichtig ist das Publikum für Dich?
F.K.: Filme sind für mich Kultur, die nicht nur Konsum ist. Dazu gehört es, sich mit den Filmen auseinanderzusetzen. Film zu zeigen bzw. anzusehen ist wie ein Dialog, ein Gespräch. Ich gehe selbst auch sehr gerne ins Kino und schaue mir Filme von anderen an. Und natürlich freue ich mich, wenn sich möglichst viele Leute Zeit nehmen, meine Filme anzusehen und ihr Geld für die Kinokarte auszugeben bereit sind. Mit »Verhängnis« bin ich zu über 40 Festivals eingeladen worden. In den Gesprächen mit den Zuschauern habe ich viel gelernt – welche Umwege sie machen und wie schwer es oft fällt, über Filme zu reden. In Deutschland zum Beispiel wurden mir immer zuerst technische Fragen gestellt, wieviel der Film gekostet hat usw., bevor das Gespräch persönlicher wurde.

D.W.: Fallen Dir solche Publikumsgespräche manchmal schwer?
F.K.: Am schlimmsten im Kino ist der Weg von der Tür nach vorne – meistens sind die Türen hinten, und die Leinwand ist vorne. Ja: Da gibt es Momente, da liefert man sich aus. Manchmal bin ich auch gerade verschlossen, muß aber nach außen gehen. Das ist dann nicht leicht. Es gibt Abende, da weiß ich schon vorher, daß ich nicht da vorne stehen kann, dann sage ich ab. Denn wenn man vor die Zuschauer tritt, gibt man sein Einverständnis, mit den Menschen im Kino zu reden. Und das sollte man einhalten können. Aber ich habe auch schon unglaublich ermutigende Momente erlebt. Nach der Vorstellung von »Verhängnis« im New Yorker »Museum of Modern Art« zum Beispiel, da stand im Publikum eine Frau aus Osteuropa auf und sagte nur einen Satz:»Das ist einfach die Wahrheit« - und ging. Das hat mich sehr berührt.
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