» "Die Kamera - ein Sprechorgan" - WOS

Autoren: Daria Borisenko, Viktor Davidov

19. Mai 2015

EIN GESPRÄCH ZWISCHEN GEISTERN

Interview mit Fred Kelemen
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WOS: Als Sie Ihr Filmstudium begannen, waren Sie bereits vielfältig ausgebildet: Zuvor hatten Sie Malerei, Musik und Philosophie studiert. Was gab Ihnen dann den Impuls, Film zu studieren?

Fred Kelemen: Meine Faszination für die bewegten Bilder und meine Ahnung, daß sich mit der Filmkunst metaphysische Räume betreten lassen, die anderen Künsten verschlossen sind.

WOS: Die Zeit Ihres Studiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) war eine Änderungsperiode (erst kam die Wende, dann zerfiel die Sowjetunion und die Geschichte des sozialistischen Osteuropa ging zu Ende). In Ihren Filmen geht es häufig um Menschen, die aus der bereits verschwundenen Welt stammen und sich bemühen, ihren Platz in der neuen Welt zu finden. Welche Wirkung hatten diese Änderungen auf Sie als Person und als Künstler?

F. K.: Auch ich stamme natürlich aus einer verschwundenen Welt, zumindest aus einer Welt, die es so nicht mehr gibt, nämlich jener West-Berlins. Den Fall des "Eisernen Vorhanges" habe ich sowohl in Berlin als auch in Ungarn erlebt. Schon 1990 drehte ich einen kurzen Videofilm, der die "Wiedervereinigung" in Deutschland als Zusammenbruch, als letztlich destruktiven Akt zeigt, dem viele Menschen ratlos gegenüberstehen. Die menschlichen Folgen, sowie auch die existentiellen und seelischen Auswirkungen anderer gesellschaftlicher Vorgänge und spirituellen Zusammenhänge wurden auch immer in meinen Filmen reflektiert.

WOS: Die Hauptfiguren in Ihrem Diplomprojekt "Verhängnis" sind Migranten aus Russland. Was war der Ausgangspunkt für diesen Film? Wie betraf Sie das Thema der russischen Migration nach Deutschland?

F. K. Der Ausgangspunkt war die Lage der Osteuropäer, die nach dem Fall der Mauer und während des ersten Jugoslawien-Krieges nach Berlin kamen, und das damit verbundene, universelle Empfinden der Fremdheit und "Geworfenheit" des Menschen in diese Welt und sein Nomadentum, sowie seine tiefsitzende Einsamkeit und sein ihn dennoch treibender Lebenswille.

WOS: Finden Sie Inspiration/Begeisterung in der heutigen (u. a. in der russischen) Wirklichkeit?

F. K.: Es ist ein grundsätzlicher, notwendiger zivilisatorischer, kreativer Akt, durch das Mittel der Kunst mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen in einen Dialog zu treten.
Was mein Verhältnis zu Russland betrifft, ist es eine Liebesbeziehung zu seiner Kultur in Form seiner Musik, Dichtung, Malerei, Filmkunst, Spiritualität und anderer Geistesäußerungen. Wie jede Liebesbeziehung gibt es auch in diesem Fall die Spannung zwischen den romantischen Gefühlen zur Geliebten und den Erscheinungen ihres Charakters im Alltag. Ohne Zweifel ist Russland eine Schatztruhe der Inspiration. Der russische bzw. sowjetische Film hat mich seit meiner Jugend stark beeinflußt, so wie er der Filmkunst insgesamt Bedeutendes gegeben hat, er hat meinem filmischen Leben den Atem eingehaucht, und ich bin sehr glücklich, daß ich durch meine Arbeit mit einer neuen Generation Studenten der "МОСКОВСКАЯ ШКОЛА НОВОГО КИНО" ("Moskauer Schule für neuen Film") die Gelegenheit bekomme versuchen zu können, dem russischen Film auf diese Weise etwas zurück zu geben.

WOS: Sie arbeiten an Ihren Filmen sowohl als Autor, als auch als Regisseur und Kameramann. Wie arrangieren Sie diese Rollen? Halten Sie diese auseinander oder arbeiten Sie simultan auf der ganzen Linie?

F. K.: Für mich - und das gilt einfach nur für meine persönliche Arbeitsweise bei meinen eigenen Filmen und ist kein Modell oder Dogma für andere - bilden Drehbuch, Regie und Kamera eine visionäre Einheit. Jeder Film, den ich zu drehen beabsichtige, existiert als kompletter Organismus in meiner Imagination, bevor ich beginne, das Drehbuch zu schreiben. Das Schreiben des Drehbuches ist die schriftliche Fixierung des zuvor mit den Augen der Seele geschauten Filmes, nichts mehr. Die Kamera erst erweckt den Film zu wirklichem Leben, sie erschafft ihn erst in dieser Welt, sichtbar für die physischen Augen, erfahrbar für die Zuschauer, womit er mit ihnen in Kommunikation tritt und zu dem wird, was seine eigentliche Bestimmung ist: Ein Gespräch zwischen Geistern. Die Kamera ist quasi dieses Sprechorgan. Und dieses Organ, wenn wir es uns in diesem Fall für einen Moment als Mund vorstellen, ist nicht abtrennbar von der Stimme, die den Worten Klang gibt, und so dem Gedanken, der durch sie ausgedrückt wird. Dem entsprechend bilden für mich Kamera, Regie und Drehbuch eine künstlerische, schöpferische Einheit. Und ich habe eine Methode entwickelt, das zu handhaben.
Es fällt mir dennoch nicht schwer, für einen anderen Regisseur als Kameramann einen Film zu drehen.

WOS: In den letzten Jahren arbeiteten Sie viel als Kameramann, doch Ihr letztes Werk als Regisseur ("Krišana)" wurde 2005 gedreht. Wann kann man Ihre nächste Regiearbeit erwarten? Was für ein Film wird das sein?

F. K.: Ich kann diese Frage nicht beantworten, da es in dieser Welt der Abhängigkeiten nicht ausschließlich meine Entscheidung ist, wann ich meinen nächsten Film werde realisieren können. Ich habe im Lauf der vergangen Jahre mehrere Drehbücher geschrieben und noch viel mehr Filme leuchten im Kino meines Geistes, das sind geisterhafte Filme, die noch nicht schriftlich fixiert aber sehr real sind. Ich werde sehen, welcher Film zuerst heraus drängt und die notwendige finanzielle und organisatorische und ideelle Unterstützung bekommt, um sichtbar zu werden. Ein alter Traum von mir ist die Verfilmung eines bestimmten Werkes von Dostojevski.

WOS: Sie unterrichten seit fast 20 Jahren, praktisch seit Ihrem eigenen Studiumsabschluß. Was bringt Ihnen die Lehrtätigkeit?

F. K.: Die Arbeit mit Studenten gibt mir Freude, sie fördert meine geistige, künstlerische Entwicklung, und vor allem das Wachsen als Mensch durch das unablässige Bemühen um die Steigerung meiner Fähigkeit zu lieben. Es ist ein Training des Zuhörens, des Hineinhörens in den anderen Menschen, des Hinsehens und des Verstehens. Es ist ein gutes Mittel gegen Egozentrismus und damit gegen die Sklerose des Herzens, den Verlust der Mitmenschlichkeit. Es ist ein Dienst an der Sache der Filmkunst und an den Menschen und damit auch Widerstandsarbeit für ein künstlerisches, humanistisches Denken und Schaffen jenseits der definierten Pfade einer mehr oder weniger autoritären Filmindustrie und Filmverwaltung, die der simplen, armseligen Geldvermehrung dient. Nur wer auf seinem geistigen Weg aufwärts zur nächsten Sprosse der Leiter jemandem, der aufrückt, hilft, aufzuschließen, das heißt, seine nächste Sprosse zu erklimmen, kann weiter gehen. Und er muß wiederum jemanden gefunden haben, der ihm hilft, den nächsten Schritt zu tun. Die Kette darf nicht reißen, es darf keine Lücke entstehen, keine leere Stufe, sonst kommt die Bewegung zum erliegen. Daher sollten wir uns an denen orientieren, die uns herausfordern zu wachsen und denen helfen, die durch uns wachsen können. Man muß erkennen, von wem man bekommen, empfangen kann und wem man geben muß. Nur zu empfangen, ohne zu geben führt zum Ende des Aufstiegs auf der Leiter. Ebenso wenn man nicht anzunehmen in der Lage ist. Ich kann nur weiter gehen, wenn ich die nächste Stufe erklimme mit der Hilfe eines anderen und wenn ich dem nächsten helfe, seinen aufsteigenden Schritt auf die freie Stufe zu gehen. Nur so, in der gegenseitigen Orientierung, im rechten Verhältnis von Annehmen und Geben ist geistiges Wachstum, und damit Befreiung durch Liebe möglich.

WOS: Sie unterrichteten nicht nur in Europa, sondern u.a. auch in den USA, Lateinamerika und Thailand. Wie unterscheiden sich Studenten in den verschiedenen Ländern? Liegen ihre Ansichten über die Filmkunst auseinander? Erwarten Sie Überraschungen von den russischen Studenten?

F. K.: Alle Menschen unterscheiden sich individuell von einander, jeder Mensch ist besonders, einmalig, eine unverzichtbare Stimme im Orchester der Menschheit.
Von den russischen Studenten erwarte ich nichts, außer dasselbe wie von anderen und mir selbst: Offenheit, Leidenschaft, Zugewandtheit, den Mut, eigensinnig und klug voran und in die Tiefe und dadurch in die Höhe zu gehen, und die Bereitschaft, die eigene Seele und die Seele der anderen leuchten zu lassen und dieser Kunst den Glanz des eigenen Lichtes zu hinzuzufügen.

WOS: Könnten Sie über Ihr Filmlabor in der "Moskauer Schule für neuen Film" kurz erzählen? Wie sind Sie dazu gekommen? Worin besteht der Hauptunterschied der Arbeit in Ihrem Labor im Verhältnis zu einem Studium in einer üblichen Filmschule?

F. K.: Ich wurde von Dmitry Mamuliya eingeladen, an der "МОСКОВСКАЯ ШКОЛА НОВОГО КИНО" ("Moskauer Schule für neuen Film") ein Laboratorium zu leiten, worüber ich mich sehr freute. Schon länger hatte ich über eine neue Art von Filmschule nachgedacht. Ich bin auch wesentlich involviert in die "Film Factory" in Sarajevo.
Das von mir entwickelte Konzept sieht einen anderen Aufbau vor als an anderen Filmschulen üblich. Ich betrachte Film als Kunst und Handwerk, d. h. wir haben es hier mir Geist und Materie zu tun. Mit beidem muß man arbeiten, beides muß man ausbilden. Sowohl die spirituellen wie die handwerklichen Fähigkeiten müssen wachsen. Dafür ist ein stufenweises Voranschreiten hilfreich. Diese Stufen folgen bei meiner gänzlich undogmatischen Methode den natürlichen Entwicklungsstufen des Menschen und basieren sowohl auf meinen Erfahrungen meines eigenen künstlerischen Weges seit meiner Kindheit als auch meiner 20jährigen Arbeit mit Studenten verschiedenster Länder. So bewegt man sich in dem von mir ausgearbeiteten Programm im Einklang mit dem natürlichen Fluß des Geistes und Rhythmus des Körpers voran. Ziel ist die schrittweise Vervollständigung der geistigen und handwerklichen Fähigkeiten jeder einzelnen Person zu einem kompletten, komplexen und gleichsam in sich harmonischen künstlerischen Gestus anstelle einer bloß technischen "Perfektion" oder des einfältigen "Know-hows" kommerzieller, erzählerischer Strategien.

WOS: Wie entstand der Begriff "cinegraphic moment"? Wie fiel er Ihnen ein?

F. K.: Durch meine Erfahrung in meiner nunmehr über 30jährigen filmischen Arbeit seit meiner Jugend habe ich immer tiefere Einblicke in das Wesen der Filmkunst bekommen. Und dabei stieß ich auf das, was ich für den Kern dieser Kunst halte und was sie von allen anderen Künsten unterscheidet, und das ist der "kinegraphische Moment".

WOS: Eine der Bewerbungsbedingungen für die Aufnahme in Ihr Labor ist die Vorlage eines "Selfies". Warum?

F. K.: Heutzutage ist das "Selfie" ein sehr beliebtes Mittel der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung. Es ist sehr zeitgemäß und im Prinzip nicht neu, denn Selbstportraits gab es schon seit langem in der Malerei und später in der Photographie. Auch der farbige Handabdruck eines frühzeitlichen Menschen auf der Felswand einer steinzeitlichen Höhle ist ein Bild zur Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung. Neu am "Selfie" ist seine Alltäglichkeit und seine Herstellung fast im Vorbeigehen, seine Flüchtigkeit und seine Privatheit. Durch die technischen Möglichkeiten ist es nahezu überall und jederzeit herstellbar. Es ist ein einsamer Dialog mit sich selbst im stetigen Vergehen der Augenblicke. Und es unterscheidet sich wesentlich von einem von einer zweiten Person aufgenommenem Portraitphoto.
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(Fred Kelemen, 25. April 2015 / WOS (ВОС), Russland, 19. Mai 2015, http://w-o-s.ru/article/14601)