» Frankfurter Rundschau | 03.06.2004 | Text: Thomas Medicus
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Die offenen Wunden osteuropäischer Wirklichkeit
Fred Kelemens Filmworkshop über die Moskauer Straße in Riga dringt in die Untiefen des lettischen totalitären 20. Jahrhunderts vor

Graffiti sieht man in Riga kaum. Blitzsauber zieht die wenig kriegszerstörte, aufwendig restaurierte Altstadt Massen deutscher und skandinavischer Touristen an. Auch jenseits der ehemaligen Wallanlagen, hinter Freiheitsdenkmal und Nationaloper, wo sich pompöse Jugendstilgebäude sowie sehenswerte Beispiele der architektonischen Moderne erheben, ist zumindest optisch von Verwahrlosung nichts zu spüren. Hinter dem Bahnhof sieht die Welt anders aus. An den vier ursprünglich als Zeppelinhangars errichteten Markthallen beginnt die Maskavas Iela, die aus der Stadt in südöstlicher Richtung hinausführende Moskauer Straße. Das im Volksmund "Moskatschka", Klein-Moskau, genannte Viertel ist seit jeher der ärmste Wohnbezirk Rigas. "Life", sagt das blaue Graffito auf der Wand des brüchigen roten Holzhauses. "Life" wiederholt, wie ein Schattenriss des ersten, ein weiterer krakeliger Schriftzug. Leben muss hier, wo Leben immer auf der Flucht gewesen ist, zum Bleiben beschworen werden.

Rigas Moskauer Vorstadt

Fred Kelemen, geboren 1964, 1995 für seinen Film "Verhängnis" mit dem Filmband in Silber ausgezeichnet, ist ein cineastischer Pionier. Derzeit veranstaltet er mit lettischen und deutschen Filmstudenten einen Workshop in Riga. Seit jeher dem osteuropäischen Film verbunden, will er jenseits der Massenware aus Hollywood jungen Letten zu einer eigenen Filmsprache zu verhelfen.Die Moskatschka, heute überwiegend von Russen bewohnt, ist ein Ort der Zerstörung. Hier ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch, kaum ein Bewohner krankenversichert, haben die Wohnungen keine sanitären Anlagen, liegen Obdachlosigkeit, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit weit über dem städtischen Durchschnitt, haben sich wilde Hundemeuten zusammengerottet. An den Straßenrändern stehen Autowracks, Brandgeruch liegt in der Luft, bevor sie abgebrochen werden, gehen viele der leer stehenden Holzhäuser durch Brandstiftung in Flammen auf. In der Innenstadt heißen die Kneipen "Skywalker" oder "Rolexxx", hier nennen sie sich "Vier Promille". Fremde werden misstrauisch taxiert, von Betrunkenen angepöbelt, jungen Männern, die gruppenweise in den Straßen umherstreunen, geht man lieber aus dem Weg. Auf einen kurzen ersten Blick macht die Moskatschka einen romantischen Eindruck. Kopfsteingepflasterte Straßen, grüne Freiflächen, zweistöckige holzverkleidete Häuser in Pastellfarben, Gauben in den Satteldächern. Eine gelungene Verbindung russischer mit skandinavischen Einflüssen, denkt man, wüsste man nicht, dass hier im Oktober 1941 von den deutschen Okkupanten nach dem Überfall auf die Sowjetunion ein Ghetto für die Rigaer Juden eingerichtet worden war. Als das von lettischen Hilfsmannschaften bewachte Viertel sechs Wochen später geräumt wurde, erschossen zwölf deutsche SS-Männer mehr als 25 000 Juden in den Wäldern vor der Stadt.

Kein geschriebenes Wort

Im weiteren Verlauf des Krieges wurde die Moskatschka als "Reichsjudenghetto" zum Bestimmungsort für deportierte Juden aus ganz Deutschland. Auf dem Blechkammerplatz erhob sich damals der Galgen, jetzt befindet sich hier ein Kleinbetrieb. Auf dem einstigen jüdischen Friedhof ragen vereinzelt Grabsteine durch die Grasnarbe. An die Erschießungen durch die SS erinnert hier wie im ganzen Viertel kein einziges geschriebenes Wort. Nur am Rand des Friedhofs erhebt sich ein Stein mit einem Davidstern, nach der lettischen Autonomie gestiftet von der Jüdischen Gemeinde Rigas. Die Moskauer Straße ist Thema eines Workshops, den Fred Kelemen mit deutschen und lettischen Filmstudenten derzeit in Riga veranstaltet. Der unter Cineasten vor allem wegen seines Films "Verhängnis" international bekannte deutsche Filmregisseur ist nicht zum ersten Mal hier. Schon vor zwei Jahren hat er in der lettischen Hauptstadt einen Workshop angeboten, damals waren "Die sieben Todsünden" das Sujet. Teilnehmer sind wieder dieselben achtzehn Filmstudenten, die fünf Deutschen studieren an der Filmhochschule Konrad Wolf in Berlin-Babelsberg. Bis Mitte Juli, wenn der Workshop mit einer öffentlichen Vorführung offiziell endet, werden drei Dokumentationen entstehen, die Mehrzahl der Beiträge sind Spielfilmprojekte. Für seine drei großen Filme hat Fred Kelemen jeweils den FIPRESCI, den Preis der internationalen Filmkritik, und viele andere Auszeichnungen (für "Verhängnis" 1995 auch den Deutschen Filmpreis) erhalten. Was treibt den 39-Jährigen in ein Land, das nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion seine Filmindustrie verloren hat und kaum über eigene Fernsehproduktionen verfügt? Eben das, antwortet Kelemen. 2000 hatte das Rigaer Goethe-Institut seinen 1999 entstandenen Film Abendland zu einer Sondervorführung eingeladen. In den folgenden Gesprächen mit Filmstudenten habe er, so Kelemen, bemerkt, wie wenig Erfahrung diese hatten, auch weil die nötige technische Ausrüstung nicht vorhanden war. Er suchte Sponsoren und fand sie unter anderem im Goethe-Institut, der Bundeskultur- und der Allianz-Kulturstiftung. Bis heute ist er davon überzeugt, dass in der Stadt, in der Sergej Eisenstein geboren wurde, der Kinofilm wieder zum Leben erwachen müsse. Einen starken Bezug zum osteuropäischen Kino besaß Kelemen, dessen Familie mütterlicherseits aus Budapest stammt, ohnehin, seitdem er sich für Film interessiert. Den italienischen Neorealismus und den frühen Bergman bewundert er, vor allem aber das Werk des Ungarn Béla Tarr wie dasjenige des Russen Andrej Tarkowskij. In West-Berlin unter dem Einfluss seiner Budapester Verwandtschaft aufgewachsen, beschäftigt ihn, wie er sagt, vor allem der osteuropäische Blick auf die Realität. Das Leben dort besitzt für ihn, den Kommerzware aus Hollywood kalt lässt, einen höheren Grad an Wirklichkeit als im Westen. "Die Wunden sind offen in Osteuropa", hat er in einem Interview gesagt. "Das Leben dort hat eine andere, existentiellere Form als in Deutschland." In Riga hat Kelemen dieses Leben gefunden, den wichtigsten Nährboden seines künstlerischen Engagements.

Totalitäres 20. Jahrhundert

Moskauer Straße: Von den Markthallen bis zum Konzentrationslager Salaspils lautet der Arbeitstitel des Film-Workshops. Salaspils, auf deutsch Kurtenhof, war von 1941 bis 1944 Konzentrationslager, "Polizeigefängnis und Arbeitsum-erziehungslager", so die offizielle NS-Bezeichnung. Die Zahl der dort Ermordeten schwankt zwischen 2000 und 100 000 Opfern, je nachdem ob die Angaben aus jüngster lettischer oder älterer sowjetischer Zeit stammen. Der Weg von den Markthallen nach Salaspils führt mitten hinein in das totalitäre 20. Jahrhundert, dessen Wirrnisse sich in der lettischen Geschichte fast exemplarisch widerspiegeln. Wider Kelemens Erwarten konnte sich keiner der Workshop-Teilnehmer dazu entschließen, sich mit dem einen oder anderen totalitären System zu befassen. Keiner der im Durchschnitt 25-jährigen Studenten beschäftigte sich mit den sowjetischen Deportationen von 20 000 Letten (darunter 5000 Juden) kurz nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes, niemand mit der NS-Vernichtungspolitik, geschweige denn den am Judenmord beteiligten lettischen Hilfstruppen. Zwar hatte Kelemen eine Exkursion nach Salaspils sowie, zusammen mit dem in Riga lebenden deutschen Zeithistoriker Markus Meckl, eine Begehung des ehemaligen Ghettos organisiert. Schließlich sei die Themenwahl aber doch eher menschlich-existentiell als historisch-politisch ausgefallen. Irgendwann habe er, so Kelemen begriffen, dass die Letten eine "große Scham" hätten, über die Deportationen ihrer Leute nach Sibirien zu sprechen, "erst recht über die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus". Druck aber habe er auf seine Studenten natürlich nicht ausüben wollen. Die fertigen Filme werden zeigen, wie weit die zeithistorische Abstinenz tatsächlich reicht. Annett Schützes Film ist fast fertig. Er zeigt fünfzehn verschiedene Orte der Moskauer Straße in je zweiminütigen starren Einstellungen ohne jeden Off-Kommentar. Zusammen mit ihrem Kameramann Aleksanders Grebnevs ist der 29-Jährigen eine verstörende Dokumentation des Elends und der Gewalt gelungen. Die Spielfilme der Letten, dostojewskihafte Kammerspiele, beschäftigen sich mit Schuld, Erlösung, Erwartung. Aus dem Widerspruch, sich schuldig gemacht zu haben, wiewohl das moralische Gute Ziel ihres Handelns war, kommen viele der Figuren nicht heraus. Die in jüngster Zeit viel diskutierte Kriegsgeschichte der vierziger Jahre scheint in Parabeln menschlichen Unvermögens Gestalt angenommen zu haben. Das offizielle Geschichtsbild, präsentiert im Rigaer Okkupations- wie Kriegsmuseum, sieht die Letten in der Opferrolle. Die Figuren der jungen lettischen Filmstudenten sind differenzierter. Sie wirken wie das Eingeständnis, dass ihr einst von Bürgerkriegen zerrissenes Volk im Kampf um seine Autonomie kaum je am Pakt mit dem politisch Bösen vorbeikam. Vielleicht sind das ja die Vorboten der originären Ikonographie, die zu stiften Fred Kelemen nach Riga gekommen ist.