» Frankfurter Allgemeine Zeitung | Text: Hans-Jörg Rother | 08.07.2004 | Nr. 156, S. 31
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Fünfzehn Arten, dem Schrecken zu entkommen
Das Kelemen-Projekt: Wie Filmstudenten in Riga sehen lernen


RIGA, im Juli
Ein Hans-Guck-in-die-Luft stolpert über den Markt. Kein Mensch läuft hier so, denn zwischen Taschendieben und noch übleren Zeitgenossen ist Aufpassen höchstes Gebot. Verwundert blicken die Leute auf den Mann, der jetzt auf einem Rollstuhl knieend zwischen Kunstblumen-, Unterwäsche- und Kosmetikständen hin und her fährt: Hier wird gefilmt. "Die verdienen einen Haufen Geld", vermutet ein Passant. Manche Verkäufer setzen ein finsteres Gesicht auf, weil die Filmcrew den Geschäftsablauf stört. Keiner von ihnen ahnt, daß Antra Wassilewska, die für ihren Film selbst die Kamera führt, wie alle anderen Studierenden an der Lettischen Kulturakademie keinen einzigen Lat Stipendium erhält - und daß sie auf dem Russischen Markt vor den ehemaligen Luftschiffhallen nur dank der Zuwendungen mehrerer deutscher Kulturstiftungen sowie des Goethe-Instituts Riga einen kleinen Versuch über einen in ein Phantombild verliebten jungen Mann drehen darf.

Abseits der Kamera hat sich der deutsche Filmregisseur Fred Kelemen postiert, der mit "Verhängnis", "Frost" und "Abendland" hohe Beachtung erfuhr und in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal mit knapp zwanzig Studenten, die meisten davon Letten, unter dem Dach des Goethe-Instituts in Riga einen Regieworkshop abhält. Ihn reize, sagt Kelemen - und man kann es seinen Arbeiten ablesen -, das Leben an den Rändern, wo die Zivilisationsschicht dünn ist. Lettland mit seiner von Gewalt geprägten Geschichte, dem Aufeinanderprallen von Armut und Reichtum, Kriminalität, Alkoholismus und steigendem Drogenkonsum ist dazu wie geschaffen. "Riga - Moskauer Straße" lautet das Thema, das Kelemen den lettischen Studenten und ihren besser gestellten Kommilitonen aus Potsdam aufgegeben hat.

Die Moskauer Vorstadt, die am Zentralmarkt beginnt, ist gleichsam der Rand vom Rande: ein Bezirk aus heruntergekommenen Mietskasernen, niedrigen Häusern mit holzverkleideten Fassaden sowie Plattenbauten aus den siebziger Jahren, dazwischen große Höfe, wo die Wäsche über Autowracks flattert, und Grünflächen, die wohl noch wachsen werden, denn immer mal wieder brennt ein Haus ab.
Noch sind fast alle Bewohner Russen, deren Eltern in den Aufbaujahren nach 1945 in die Industriebetriebe Rigas gelockt wurden. Von der hohen Arbeitslosigkeit ist diese Schicht am meisten betroffen. Die tägliche Demütigung durch die lettische Verwaltung tut ein übriges dazu, daß viele Anwohner links und rechts der Maszkava iela, wie die Magistrale mit dem Uraltpflaster amtlich heißt, Trost im Alkohol suchen. An fünfzehn Orten dieses schlecht beleumdeten Wohngebiets hat Annett Schütze, die an der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf studiert, mit einem jungen russischen Kollegen die Kamera postiert und aufgenommen, was passierte.

Die Montage an dem aus Deutschland herbeigeschafften digitalen Schneidetisch wird Annett Schütze viel Kunstfertigkeit abverlangen. Das Drehen an den fünfzehn Schauplätzen postsowjetischen Lebens indessen setzt eine gehörige Portion Courage voraus. Eine Sequenz, vielleicht die erschütterndste, zeigt, wie neben einem überladenen Müllcontainer ein Mann seinen Vollrausch ausschläft. Erwachsene und Kinder gehen achtlos vorbei. Plötzlich stürzt sich ein Mann auf den Schlafenden, zerrt ihn auf die Fahrbahn, reißt ihm Stiefel und Jacke vom Körper und schwenkt drohend eine Bierflasche über dem Kopf des wehrlosen Opfers. Die Aufnahme bricht ab, der Kameramann hat die Polizei gerufen. Hätte er sonst einen Mord auf offener Straße gefilmt? Wie lange darf man zuschauen, wenn man das Leben dokumentieren will, fragt sich die angehende Regisseurin. Andere Episoden zeigen herumtobende Kinder, Hunde, alte Leute, die Holz sägen für den Winter, denn Kohlen sind zu teuer, und immer wieder poltert die Straßenbahn durch das kühl registrierende Bild. Eine musikalisch strukturierte Geräuschcollage soll die Spannung des Ortes unterstreichen.

In der Moskauer Vorstadt errichtete im Oktober 1941 eine deutsche Einsatzgruppe mit ihren lettischen Helfern das jüdische Ghetto. Von hier wurden Männer und Frauen anfangs noch zur Arbeit, dann zu den Erschießungsstätten in den Wälder geführt. Aus Deutschland und den besetzten Ländern füllten Deportierte die Häuser wieder auf; auch sie wurden umgebracht. "Hinter diesem Tor stöhnt die Erde", liest man am Eingang zu der monumentalen Denkmalsanlage auf dem Gelände des einstigen Arbeits- und Todeslagers Salaspils am äußersten Ende der Moskauer Straße, schon außerhalb der Stadtgrenze. Es könnte auch über dem Alten Jüdischen Friedhof in der Moskauer Vorstadt stehen, über dessen Gräbern die sowjetischen Behörden einen "Park der kommunistischen Brigaden" anlegten.

"Eine gute Gelegenheit, unter ungewohnten Drehbedingungen zu arbeiten und die Augen für eine andere Welt zu öffnen", nennt Leima Freimane, die lettische Produzentin, das Kelemen-Projekt. Nicht alles können die Augen fassen, was sie sehen, und für große Themen fehlt die Zeit. Auch bemerkt man an den teils schon fast fertigen, teils noch auf dem Papier stehenden Geschichten gravierende Unterschiede der Sichtweisen. Die Studenten aus Potsdam bringen einen neugierigen dokumentarischen Blick mit, zum Beispiel auf lettische Frauen, die ihren Familien einen Halt geben, oder einen Wunderheiler, dem das abergläubische Publikum in Scharen zuströmt - in Lettland ein verbreitetes Phänomen. Die gleichaltrigen lettischen Studenten, fast alles junge Frauen, sehen in dem Workshop vor allem, wie es auch in Kelemens Konzept steht, ein "Sprungbrett für Imagination". Fast in jeder ihrer Geschichten bilden Träume den Trostgrund für die bittere Wirklichkeit. Bildkräftige Visionen werden zu Masken der Hoffnung auf ein gutes Ende, mag auch die Logik des Schicksals dagegensprechen. Handelt doch endlich einmal, versucht etwas Neues, möchte man ausrufen, ohne den Einfallsreichtum und die Bildideen der elf lettischen Versuche zu verkennen.

Während dieses Workshops haben die lettischen Studenten vor allem eins gelernt: in Bildern zu denken und mit den Personen ein Stück von sich selbst zu entwerfen. Wie sehr sie später auf die Art werden arbeiten können, hängt nicht allein von ihnen ab. Für mehr als ein oder zwei Spielfilme im Jahr reichen die staatlichen Subventionen in Lettland nicht aus. Zur Zeit werde Lettland, wie zuvor Rumänien, von Hollywood als billiger Produktionsstandort entdeckt, erzählt Laima Freimane. Die Filmwerkstadt "Moskauer Straße" ist eine Insel im Strom.
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HANS-JÖRG ROTHER