» Neues Deutschland | 25/26.09.2004 | Text: Erika Richter
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MOSKAUER STRASSE
Fred Kelemens Regie-und-Kamera-Workshop in Riga ging mit der Aufführung der Filme erfolgreich zu Ende

Unter großem Beifall wurden am 10. und 11. September 2004 im Kino »Riga« 13 Studentenfilme vorgeführt, die im Rahmen eines dreieinhalb Monate dauernden Workshops unter Leitung des in Berlin lebenden Regisseurs, Kameramanns und Autors Fred Kelemen entstanden. Bei diesen Arbeiten handelt es sich um die Diplomfilme der Kameraabsolventen der Lettischen Kulturakademie (LKA). Vier Filme erhielten die Note Zehn (»mit Auszeichnung«). Es war das beste Ergebnis, das je an der LKA erreicht wurde, zumal in der Geschichte der Akademie noch nie als Diplomnote die Zehn vergeben wurde.

Die Leiterin der Kameraabteilung, Inga Perkone, sprach bei ihrer Eröffnungsrede im Kino mit Recht davon, daß die Präsentation dieser Abschlussfilme ein bedeutendes Ereignis innerhalb der lettischen Filmkunst sei. Mit diesen Filmen junger Leute sei in dieser für das Land schwierigen neuen Zeit – geprägt vom Zusammenbruch der Sowjetunion und der kürzlichen EU-Mitgliedschaft – eine neue Epoche für das lettische Kino angebrochen. Etwas Neues sei entstanden. Sie sprach vom Neuen Lettischen Film. Es ist in erster Linie der Leidenschaft und dem Kampfgeist Fred Kelemens zu danken, dass dieser Workshop durchgeführt und mit diesem herausragenden Ergebnis abgeschlossen werden konnte. Als auf dem Rigaer Filmfestival »Arsenals« im Jahre 2000 sein Film »Abendland« (1999) präsentiert wurde, lud das dortige Goethe-Institut Studenten und Dozenten der LKA zu einer Sonderaufführung des Filmes ein. Im Gespräch mit dem Regisseur kam die prekäre Ausbildungssituation der Studenten zur Sprache. Fred Kelemen machte den Vorschlag, an der LKA einen Regie- und Kamera-Workshop durchzuführen. Er entwickelte dafür ein Konzept, das vom Goethe-Institut mitgetragen wurde. So kam im Herbst 2002 ein erstes praktisches Regie- und Kameraseminar zu Stande, für dessen Realisierung die damalige Leiterin des Rigaer Goethe-Institutes, Sabine Belz, von der Allianz-Kulturstiftung das Geld erhielt, mit dem sowohl zwölf Filme produziert, als auch eine professionelle DV-Cam und Tonausrüstung angeschafft werden konnten, die der Akademie anschließend überlassen wurden. Dieser erste Workshop verlief so gut, dass bei den Studierenden und insbesondere bei dem Leiter der Akademie, Peteris Lakis, der Wunsch nach einer Fortsetzung entstand. Kelemens Bemühungen und die Unterstützung durch das Berliner Goethe-Institut machten schließlich möglich, dass der Workshop, gefördert durch die Bundeskulturstiftung, die Allianz-Kulturstiftung, die Robert-Bosch-Stiftung, die Bundeszentrale für politische Bildung und das Goethe-Institut in München sowie durch Valsts Kulturkapitala fonds und Rigas Dome ab April 2004 durchgeführt werden konnte. Diesmal nahmen auch Studenten der Filmhochschule »Konrad Wolf« aus Potsdam-Babelsberg teil.

Fred Kelemen formulierte als Programm u.a. folgendes: »Den Anfang der Reise – und das Drehen eines jeden Filmes ist eine Reise sowohl im physischen als auch im geistigen Sinn – bildet in diesem Fall ein konkreter Ort. Dieser Ort ist eingegrenzt und doch weit; sogar unendlich weit. Es ist die Moskauer Straße in Riga. Von hier aus nimmt das Denken und Fühlen, das Sehen seinen Weg. Was sichtbar ist und was sichtbar werden kann, wird die Leinwand füllen mit Bildern, die es nur im Kino und in unserer Imagination gibt. Nicht nur, was ist, sondern auch, was sein kann – das Wirkliche und das Mögliche, verbinden sich zum Tanz der Bilder auf der Leinwand und in unserem Bewusstsein. Die Moskauer Straße in Riga ist der Boden, auf dem dieser Tanz ausgeführt wird...« Nicht irgendein ›Hirngespinst‹, eine ›verrückte Idee‹, die Kopie eines durch das Fernsehen vermittelten Lebens ... sollen den Ausgang der Filme bilden, sondern das Leben selbst... Nicht gefiltert. Nicht verklärt. Sondern sichtbar gemacht. « Die Moskauer Straße, die durch die Lebenswelten unterschiedlichster sozialer Schichten und historischer Epochen führt und an der Stadtgrenze endet, wo ein Weg in einen Wald abzweigt, der in der Stille der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers »Salaspils« endet, »... reiht aktuelle lettische Lebensrealitäten ebenso auf, wie die wechselhafte lettische Geschichte, und konfrontiert mit deutscher Vergangenheit. Die Studenten sind dazu angehalten, Geschichten zu erzählen, Geschichten von den Menschen dieser Straße, Geschichten, die dort geschahen, geschehen oder geschehen könnten. Das Reale soll Sprungbrett für die Imagination sein. Das Hinsehen und Einlassen auf einen Ort, der so komplex und widersprüchlich ist wie das gesamte Leben, soll die filmische Fantasie in Gang setzen und so die vorgefundene, sich ereignende Realität um die mögliche Realität bereichern...« Bei der Arbeit an den Filmen, vom Finden der Idee über das Schreiben des Drehbuchs, das Auswählen der Schauspieler, die Inszenierung bis hin zur Endfertigung war Fred Kelemen als kritischer und guter Geist, intensiv fordernd und fördernd, dabei, wurde nicht müde, die Studenten dazu anzuregen, ihre Geschichten konkret, klar und folgerichtig zu entwickeln, auf lebendigen und komplexen Charakteren zu bestehen und stets an eine auf dem Bild basierende, originär filmische Darstellungsweise zu denken. Bis zum fertigen Film und bis zur Aufführung im Kino war er um die Vervollkommnung der Filme seiner Studenten und ihre optimale Präsentation im Kino bemüht.

Der Ausgangspunkt Moskauer Straße ist in den Filmen auf unterschiedliche Weise präsent. Manchmal ganz direkt, als realer Raum, dann als sozialer und geistiger Hintergrund agierender Personen, in den meisten Filmen jedoch als eine Art Metapher für Realität als »Sprungbrett für die Phantasie«, die sich in ganz andere Gegenden erhebt. Bei Arbeiten, in denen Bildauffassung, optischer Rhythmus, Licht, Montage eine wesentliche Rolle spielen, wird durch die Andeutung der Geschichte der innere Reichtum empfindlich reduziert; auch reicht hier der Platz nicht, alle Filme vorzustellen. Dennoch ein Versuch: Elina Bandena erzählt in »Begsana« von der etwa siebenjährigen Emmily, die vom Vater für einige Zeit zu ihren autoritären Großeltern gebracht wird und die sich dem strengen, lieblosen Regime im Hause widersetzt. Immer wieder läuft sie fort, zu einem Fischer und dessen krankem Sohn, für dessen Heilung sie alles ihr Mögliche tut. Der Film beschreibt in langen, teilweise tableauhaften Einstellungen, wie das Mädchen ausbricht, durch den Wald rennt, zum Meer, findet aber auch andere Bilder für ihre Fluchten, so dass wir ihre Energie, ihren starken Willen, ihre Sehnsucht nach Geborgenheit spüren und das Gefühl bekommen, dass dieses Kind voller Kraft und Fantasie ist. Im Schlussbild jedoch setzt die Regisseurin eine überraschende Wendung. Eben noch war zu sehen, wie sie – als Reaktion auf grausame Schläge des Großvaters – durch den Wald floh. Dann findet sie der Vater, der sie abholen kommt – zunächst überrascht wegen ihrer Abwesenheit beim Abendessen der Großeltern – klein und verletzlich in der Ecke ihrer Stube hockend. Ist sie jemals weggelaufen? Oder hat sie es sich nur stark gewünscht? Wir empfinden, dass der Wunsch, sich der Hartherzigkeit zu widersetzen, genauso stark ist wie die Realität, die diesen Widerstand für ein Kind so schwer macht.

In Linda Oltes »Kliedz!« erinnert sich ein heute etwa 30-Jähriger an seine Schwester, mit der er infolge des Unfalltodes seiner Eltern im Kinderheim war, von der er durch seine Adoption getrennt wurde und die er später nie wiederfand. Als er auf dem Grab seiner Eltern ein Zeichen ihrer gemeinsamen Kinderspiele findet, glaubt er, sie sei zurückgekommen und sucht sie. Er findet sie in einem Irrenhaus, denn sie hat die Trennung von ihm nie verwunden. Er führt sie, gemeinsam mit den anderen Kranken, aus der Anstalt heraus, und der Wunsch, sich den Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten des Lebens zu widersetzen, drückt sich in einem gewaltigen Schrei aus, der von ihm, seiner Schwester und vielen anderen Menschen, in der Oper und auf den Straßen gemeinsam herausgeschrieen wird: in einem Schrei nach Leben. Maija Romasko erzählt in ihrem halbstündigen Film »Mirklis« von dem etwa elfjährigen Arnis, der in einer trostlosen Gegend der Moskauer Vorstadt lebt und einen Blick für das Besondere hat, etwa für die Wanderungen einer Ameise auf seinem nackten Fuß, weswegen er von anderen Kindern ausgelacht, verprügelt und gequält wird. Er begegnet einer jungen Frau, die einen exzentrischen Ort für eine Party reicher Geschäftsleute sucht. Diese beiden Menschen öffnen sich füreinander, und dieser kleine glückliche Moment lässt uns die in dem Jungen angelegten Möglichkeiten, sein feines Sensorium für den Reichtum der Welt ebenso empfinden wie er zugleich schmerzlich bewusst macht, dass er einem Umfeld verhaftet ist, dessen Fesseln er nicht durchbrechen können wird. In diesen und einigen anderen Filmen werfen die Schicksale von Kindern, ihre Leiden, ihr Widerstand, ihr Ausgesetztsein Schlaglichter auf die Härten des Lebens in der gegenwärtigen lettischen Gesellschaft. Menschliche und soziale Tiefe bestimmt auch Jeva Konstantes Schwarzweiß-Film »Pilieni«, das Porträt einer etwa 60-jährigen Frau, die zu ihrem Geburtstag wie in jedem Jahr den Besuch ihres Sohnes erwartet, der in einer anderen Stadt lebt. Sie wartet vergeblich. Als er auf ihre telefonischen Vorhaltungen schließlich doch erscheint, lässt sie ihn, zutiefst gekränkt, nicht herein. Die ausdrucksvollen Großaufnahmen, die plastische Montage der Bilder von alltäglichen Verrichtungen der Frau, ihren abwehrenden Gesprächen mit der Nachbarin, der sie später vorgibt, ihr Sohn hätte sie besucht, von ihrem in immer neuen Variationen beschriebenen Warten gewinnen eine unglaubliche, beklemmende Dichte.

Annett Schütze folgte dem Konzept, für ihren 90-minütigen Dokumentarfilm »Moskatchka« die Kamera (Aleksandr Grebnevs) an zwölf verschiedenen Orten in der Nähe der Moskauer Straße aufzustellen und jeweils zweieinhalb Minuten lang das aufzunehmen, was sich gerade ereignete. Zu jedem Ort kehrte sie zwei Mal zurück. Der Film beginnt pittoresk – eine alte Frau, umgeben von spielenden Kindern, sitzt auf einem Hof und strickt / Kinder bauen an einem Autowrack herum, rollen es aus dem Bild, kommen mit ihm wieder zurück / Männer versuchen, ein Autowrack auf einen LKW zu hieven, was immer wieder misslingt / Ein Mann hackt vor einer riesigen Wand aus aufgeschichteten Scheiten unermüdlich Holz / Jungen spielen mit einem Windhund Fußball – aber allmählich verändert der sein Prinzip konsequent verfolgende Film seinen Charakter: Einem auf dem Boden liegenden Betrunkenen wird von einem anderen Mann brutal ins Gesicht getreten, bevor er ihm die Schuhe auszieht, die er anschließend in eine Mülltonne wirft /Kunden warten geduldig vor einer Flaschenannahmestelle/ Von einer Suppenküche der russisch-orthodoxen Kirche wird Essen verteilt. Die Kamera blickt den Menschen aus der Nähe ins Gesicht, zeigt ihre Unsicherheit, ihre Scham, ihre Frechheit, ihre gespielte Lässigkeit. Die strenge Form, die eigenwilligen, lange stehenden Einstellungen zwingen den Zuschauer dazu, in den Bildern der Moskauer Straße das innere, tiefere Bild dieses Films zu entdecken: das der Existenz des heutigen Menschen, der in sein Unglück stolpert, das Bild einer sich unaufhaltsam zusammenbrauenden Katastrophe, die auch der unermüdliche Holzhacker, der an Sisyphus erinnert, nicht aufhalten kann.

Diese Filme, an deren Aufführung viele Filmleute, Schauspieler, Theaterleute, Filmjournalisten und anderweitig an Kultur Interessierte teilnahmen, machten in ihrer Gesamtheit einen ungewöhnlich tiefen Eindruck. Yevgeny Pashkevich, Regisseur des berühmten Films »Days of Man«, sprach von einer künstlerischen Explosion, die psychologisch Wichtiges ausgelöst habe. Die Verbindung von Realität und Imagination in ihren verschiedensten Varianten, das Reale als Sprungbrett für die Imagination wurde als Charakteristikum aller Filme wahrgenommen. Es war die Rede von einem Rigaer Neorealismus, von einem Neuen Lettischen Film, wie sogar die einheimische Presse schrieb, als dessen »Vater« Fred Kelemen bezeichnet wurde. Dieser Workshop wurde als für die lettische Kinematografie wie für die lettische Kultur insgesamt als hoffnungsstiftende Arbeit verstanden, zu deren Ausstrahlung, Produktivität und Erfolg auch das deutlich spürbare herzliche Verhältnis zwischen den Studenten und Fred Kelemen Wesentliches beigetragen hat. In seiner Abschiedsrede sagte Fred Kelemen u.a.: »Für euren weiteren Weg wünsche ich euch Mut, einen freien Geist, tiefen Glauben an euch selbst und eure Arbeit – und Liebe. Ich hoffe, dass ihr weiterhin gute Begleiter und Beschützer findet, denn diese sind in einer Zeit, in der es schwierig ist, persönliche und wahrhaftige Filme jenseits des vorgegebenen kommerziellen Weges zu realisieren, so wichtig. Seid stark und widerspenstig!«

Den Abschluss bildete die Preview des Films »Krisana« (englischer Titel: »Fallen«), den Fred Kelemen während seines Aufenthaltes in Riga selbst realisierte. Dieser 90-minütige Schwarz-Weiß-Film eröffnet mit einer minimalen Geschichte ein Universum. Der Archivar Matiss (Egons Dombrovskis) sieht des Nachts auf einer Brücke eine Frau (Aija Dzerve), die dabei ist, sich in die Tiefe zu stürzen, wovor er sie nicht bewahrt. Dieser Moment verändert sein Leben. Die Unruhe seines Gewissens treibt ihn dazu, sich Tage und Nächte auf den Weg durch Riga zu machen, die Geschichte jener Frau herauszufinden, wobei er sich immer tiefer in ihr Schicksal und seine eigene Einsamkeit verstrickt. Aus Licht und Schatten, Stimmen und Geräuschen entsteht eine faszinierende Welt, die uns die innere Not des Helden mit großer Intensität nahe bringt. Durch die meisterhafte Einfachheit und Klarheit seiner Narration, die schlichte Schönheit seiner kontrastreichen, Zeit atmenden Bilder, die den Figuren große Würde und Menschlichkeit verleiht, sowie die filmkünstlerische Reinheit, die an Werke Bressons oder den frühen Bergman denken lässt, wird das innere Drama der Protagonisten dieses alles Modische und Herkömmliche weit hinter sich lassenden kühnen Filmes über Schuld und Vergebung in Hoffnung und vielleicht sogar in Erlösung verwandelt.
Mit »Krisana« hat Fred Kelemen sein in der deutschen Kinolandschaft solitär dastehendes Werk um ein weiteres cineastisches Meisterstück bereichert.
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Erika Richter, Neues Deutschland 25./26. September 2004