» Filmkonst Nr. 31 | »Local Heroes« | Published by Göteborg Film Festival, 1995
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»Wie ein Verrückter jenseits aller Grenzen, geh’ wohin du willst, lebe wie ein Löwe, völlig frei von Angst.« (Dzogchen-Tantra)

Zunächst ist es natürlich möglich, daß es nicht nur das Schicksal der Filmindustrie und der Regisseure, sondern der gesamten Zivilisation ist, in Zukunft nicht mehr zu existieren. Die Schicksale aller Menschen hängen doch eng miteinander zusammen. Kultur ist ein Spiegel des Geistes einer Epoche. In einer zeitgenössischen Kultur zeigt sich der herrschende Geist ebenso, wie darin sichtbar wird, was von vergangenen Zuständen noch erhalten oder untergegangen ist. Auch die Zukunft läßt sich im magischen Spiegel der Kultur schauen.

Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel unserer heutigen Kultur blicken?
Welches Gesicht trägt der Geist vom Ende des 2. Jahrtausends nach Christi Geburt?

Sehen wir uns die Filme an, die wohl wie keine andere Form der Kunst in der Lage sind, Geist sichtbar zu machen und den Zustand von Menschsein zu reflektieren und zu dokumentieren. Wie keine andere Form, denn die Filmkunst – ich bin so altmodisch zu glauben, daß der Film zu den Künsten zu zählen ist – kann sprechen ohne das Wort und sie tut es in der Zeit, was ihr eine ungeheure visionäre Kraft verleihen könnte. Und diese Kraft trägt sie tatsächlich in sich wie die Erde das Feuer.

Erinnern wir uns, wie die ersten Bilder projiziert wurden, so sehen wir einen dunklen Raum, eine Wand und Feuer, das durch ein transparentes Bild scheint und so eine Abbildung erzeugt. Diese Elemente – dunkler Raum, Wand und Feuer und als Resultat ein Bild – führen uns noch weiter zurück in die Höhlen der ersten Menschen, an Orte wie Lascaux und Altamira. In Höhlen versammelten sie sich und schufen im Schein der Fackeln Bilder. Bilder, die beschwören, Bilder, die als wesentlicher Teil des Ritus Dämonen bannten. Was sich fixieren, was sich nennen läßt, verliert seine Macht, da der Mensch – seit Anbeginn in Furcht – durch das Bannen Kontrolle über die Dämonen erlangen kann. Mit den Höhlenbildern dieser frühen Menschen befinden wir uns im Zentrum der Angst und damit am Anfang der Kultur des Films. Zeugt denn der einfache, Jahrtausende alte Handabdruck eines Menschen in einer dunklen Höhle nicht von der ungeheuren Angst des Menschen letztlich vor sich selbst, dem eigenen Fremdsein, dem sich selbst Unheimlichsein und der unendlichen Sehnsucht nach Erkennen? Und versammeln wir uns nicht wie vor Jahrtausenden in den dunklen Höhlen der Kinosäle und blicken staunend und gebannt auf das Lichtspiel der Bilder vor uns auf der Wand in der vagen Hoffnung, am Ende etwas gebannt zu haben, das uns tiefe Angst verursachte - und wären das nur wir selbst?

Was wir heute auf der Leinwand sehen hat kaum den Charakter des Ritus; die Bilder, die uns vorgeführt werden, erinnern nur selten an den Menschen und sein Leben. Und auch das magische Wissen um das Licht, das immer auch ein Wissen um die Kraft des Feuers ist, scheint fast verloren.

Das „Kino“ am Ende des ersten Jahrhunderts seiner Existenz vermag nicht mehr, Dämonen zu bannen, es treibt – bis auf wenige Ausnahmen – nichts mehr heraus aus den Wunden unserer Existenz. Das „Kino“ am Ende des 20. Jahrhunderts läuft sich tot im Kreis einer scheinbar nicht enden sollenden Systembestätigung, die schon in allen Bereichen der Kultur Konsens geworden ist und damit den Zustand des Diktatorischen erreicht hat. Dieses „Kino“ gebiert Dämonen anstatt sie zu bannen, da es sich nicht mehr auflehnt, da es aufgegeben oder verlernt hat, gegen den Drachen zu kämpfen.

Ich weiß nicht, was Kino ist, was ein Film ist. Ich habe nur eine Ahnung, ein Gefühl, was es sein könnte; und das wäre etwas, das viel mit Liebe, Phantasie und Freiheit zu tun hat, die es nur im Geist geben kann, und die der Geist sich erobern muß.
Doch unsere Generation hat sich noch nicht artikuliert, sie hat das Feuer des Films noch nicht entfesselt und sie hat nur noch wenig Zeit dazu in einer Epoche, die die Kultur zu einem konfektionierten Produkt einer Amüsierindustrie heruntergebracht hat. Andere Generationen hatten verbindende Themen, stießen auf Erlebnisse, die kommunizierbar waren und eine Artikulation verlangten wie den Krieg, die Erfahrung der Diktatur, die Befreiung der Jugend von den sogenannten „bourgeoisen“ Vorstellungen der Eltern in den 60er und 70er Jahren etc.

Was könnten verbindende Themen unserer Generation sein?
Dies scheint die essentielle Frage unserer Zeit zu sein und von ihrer Beantwortung hängt auch die Zukunft der Filmkunst ab. Neue Technologien werden keine Antwort auf diese Frage geben. Was den meisten Filmen fehlt, ist nicht das technische Vermögen, sondern der geistige und emotionale Reichtum.
Im Erkennen dieses Mangels liegt wahrscheinlich auch die Antwort.

Der Verlust der Visionen und Utopien, der Spiritualität und Individualität, die Vermassung des Denkens, die Konventionalisierung der Phantasie und allem voran die Abwesenheit der Realität sind Erfahrungen, die unsere Generation über alle Ländergrenzen hinweg zu verbinden scheint. Die Realität scheint aus dem Blick verschwunden zu sein. Auf die Leinwand verirrt sie sich nur noch selten. Doch ohne den Blick für die Realität ist keine Utopie möglich.

Unsere Generation hat das alles noch nicht artikuliert. Und sie muß sich beeilen, falls sie vor hat, Filme über das Leben in der Realität – wozu auch der Bereich des Visionären gehört – zu drehen, und nicht nur Filme über das Leben im Kino oder in der Fernsehröhre. Sonst könnte es sein, daß wir eines Tages in den Spiegel unserer Kultur schauen und nur noch eine dämonische Leere erblicken, aus deren Hintergrund uns die Fratze des eigenen Wahnsinns anspringt und uns verschlingt – und wieder ausspeit in die selbe verzweifelte Welt, aus der wir kamen, da wir ungenießbar geworden sind.

Möglicherweise stellt sich aber heraus, daß es ganz leicht und wunderbar ist, einen Film zu drehen, wenn wir einfach nur hinsehen und mit Liebe und mit allen Mitteln, die der Film uns zur Verfügung stellt, über das sprechen, was uns wirklich berührt.
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Fred Kelemen