» Filmboard News 4, 11/99
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Einige Reflexionen zum Geschichtenerzählen im Film

Man kann lernen, wie man eine Geschichte erzählt. Doch darauf kommt es nicht an. Man muß die Sehnsucht haben zu erzählen. Und das muß keine Geschichte sein. Eine »gute Story« ist etwas für Journalisten. Man kann nicht lernen zu berühren. Doch man kann auf sich nehmen, sich zu trauen. Und darauf kommt es an. Wirklich berührend ist vielleicht allein das Leben hinter den Geschichten, in ihren Zwischenräumen, unter ihrer Haut. Nicht das Aufzählen äußerer Ereignisse, sondern die Augenblicke menschlicher Dramatik, die existentielle Spannung im Raum zwischen den Personen, die vibrierende Stille zwischen den Aktionen, die Momente des Zögerns kurz vor dem Entschluß, und dann der ungeheuer scharfe Blitzschlag einer Entscheidung, dessen Folge das Feuer einer Tat ist oder die Verweigerung einer Tat, ein Blick, eine Geste und vielleicht gerade jene Abseitigkeit, die die Geschichte nicht voran, sondern die Situation in die Tiefe treibt, all das, was Menschen bewegt, kann filmisches Erzählen sein.
Ein Film kann wie ein Gedicht sein. Er muß nicht der erzählerischen Form eines Romans des 19. Jahrhunderts folgen. Am Ende des 20. Jahrhunderts, umringt von all den anderen Künsten, die längst befreit sind bis ins Abstrakteste hinein, könnte das Kino den Mut aufbringen, anders zu erzählen, als starr entlang dramaturgischer Konzepte. Es könnte erzählen von vielem, das nicht »Story« ist; von allem, was uns erschüttert. Nicht was geschieht, sondern woher es kommt, wohin es führt, und wie es auf den Menschen einwirkt, was das Leben mit einem macht und was einer mit dem Leben macht, ist das, was eine Energie auslösen kann, die man Berührtheit nennen könnte.
Mit jedem einzelnen Film, der gedreht wird, gibt es mindestens zwei Filme. Der eine ist der in der Filmbüchse, der Filmstreifen, der, nicht projiziert, noch nicht zu Leben erwacht ist, zu nichts nütze.
Der zweite Film ist der projizierte; eine Illusion von Geschwindigkeit und Licht selbst in den langsamsten und stillsten Momenten.
Und dann gibt es manchmal noch einen dritten Film, und auf den kommt es an. Das ist der Film im Kopf des Zuschauers. Das ist der Film, der lebt, der weitergetragen wird durch die je eigene Biographie; vielleicht ein Leben lang. Das ist der Film, der Geist mit Geist verbindet, der Sprache geworden ist und Erinnerung und so Kommunikation. Nicht die Geschichte ist das, was uns berührt, sondern die durch unsere Augenzeugenschaft in uns zu Leben erwachten Bilder. Daher lohnt nicht alles, Film zu werden. Nur was sich in Bilder brennen läßt, die die Kraft haben, Erinnerung zu werden, hat eine Existenz über den Rand der Leinwand und der Geschichte hinaus.
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Fred Kelemen