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Fragment über das Erzählen / Eine Einladung der Hochschule
der Künste Bern/CH: Projektseminar »Der Faden ist gerissen
-Narrative STrategien in der zeitgenössischen Kunst«, Februar
2005 Fragment über das Erzählen Das Erzählen, ob von erlebten oder erfundenen Geschichten, Begebenheiten,
Gedanken oder Emotionen, Träumen oder Visionen, durchzieht das Sein
der Menschheit von Generation zu Generation von alters her. Vom Grund
dieses Flusses der Narration leuchtet uns die Angst entgegen. Die Angst
vor dem Schweigen, die Angst vor dem Nichts. Auf dem Grund des Erzählens
liegt die Angst. Wir könnten auch schweigen. Aber wir tun es nicht.
Die Stille könnte unseren Verstand an den Rand zum Nichts treiben
– und darüber hinaus. Dort gäbe es keinen Halt mehr. An
den Worten halten wir uns fest, an den Bildern, am Verhandelbaren, am
Mitteilbaren. Über die Erzählung treten wir in Kommunikation
mit den anderen, über die Erzählung vergewissern wir uns unseres
Lebens und Erlebens. Es stellt uns in eine Ordnung und hält uns so
vor dem Zugriff des Chaos in einer Sicherheitszone des scheinbaren Verstehens.
Und der Geist schwebte über den Wassern. So schweben wir am Faden
des gliedernden Erzählens über dem Abgrund des Daseins. Das
Erzählen erfüllt soziale und existenzielle Bedürfnisse
des Menschen. Am Anfang war das Wort. Und das Wort war ein Bild. Was war
vor dem Anfang? Was wird nach dem Ende sein? Das Schweigen? Das Nichts?
Und unsere Existenz, und tief mit ihr verbunden dazwischen als Insel des
Daseins, unser Erzählen? Ich erzähle, also bin ich? Wer erzählt,
benötigt Zuhörer. Über die allmähliche Verfertigung
der Gedanken beim Sprechen. Kein Denken ohne Worte? Im Erzählen vergewissern
wir uns unserer Welt. UNSERER Welt, die wir damit gleichsam erschaffen.
Ist der Akt dabei wichtiger als der Inhalt? Wovon erzählen wir? Wovon
und wie erzählt die Kunst? Gibt es einen Unterschied zwischen dem
Getratsche zweier Hausfrauen im Treppenaufgang und einem Werk der Weltliteratur?
Warum schweigen wir nicht? Warum genügt es uns nicht, betrachtend
still zu reflektieren? Wie jene Katze, die im Sand der kretischen Küste
eines Nachts reglos für Stunden über die Weite des Meeres zum
vollen Mond hinsah. Warum teilen wir mit? Wem? Wie? Wie unheimlich ist
uns die Welt, dass wir sie nur erzählend, und im Erzählen übersichtlich
strukturiert, ertragen. Treibt uns die Angst vor der Wirklichkeit des
Lebens, jenes tobenden Nichts, das immer wieder durch das Schweigen beschworen
wird, in die Fluten des Erzählens? Der Kosmos ist ein wilder Traum.
Die Erzählung ein sicheres Ufer. Von Angst ergriffen ist der Menschen,
dem das Schweigen, das Nichts nicht angefüllt ist, dem es tatsächlich
leer ist. Wem das Schweigen angefüllt ist mit Sein oder Gott oder
Leben, der findet in ihm erfüllende Begegnung. Das Gebet, ein Erzählen,
das nicht mehr an den Menschen sich richtet, wendet sich direkt in die
Schöpfung hinein. Es duldet keinen Lärm und findet seinen Weg
in der Stille. Im Erzählen wiederholen wir den Akt der Schöpfung
und setzen ihm eine neue Möglichkeit zur Seite, so wie im Fluss die
Möglichkeit des Meeres schon immer mitfließt. Und wie das Meer
schon immer Quelle des Flusses ist. Everything simply is and continues
to be. Wovon können wir erzählen? Wovon sollten wir schweigen?
Wovon könnten wir nur stammeln oder schreien, wollten wir wahrhaftig
sein? Der Faden ist gerissen, der uns über dem Abgrund hielt. Die
überkommenen Formen des Erzählens hielten nicht stand angesichts
der Leere, mit dem das All den Menschen der Moderne anfiel. Der Schrei
wurde der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts zum gültigen Ausdruck
des Weltempfindens. Wer die Schwingungen der Erschütterungen, denen
der Mensch der letzten Jahrhunderte ausgesetzt war, sein Erzählen
durchpulsen lässt, wer im Erzählen auch immer die Wunde unseres
Hierseins miterzählt, der kann nicht anders, als der Spur jenes Schreis
nachzustürzen und die Fragmente unseres fragwürdigen, brüchigen
Seins als Funken eines seither absolut subjektiven Welterlebens einem
schwarzen Himmel entgegenzuschleudern, der der Malgrund unserer Erzählung
ist. |