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Karot – Gespräche zur Filmkunst, Vergangenheit und Gegenwart Armeniens

 

GERONNENES LEBEN

Die Fiktion der Wirklichkeit

 

In Berlin eine Retrospektive des armenischen Films zu präsentieren, ist unmöglich ohne vor allem jenen Teil der Geschichte zu thematisieren, der Armenien und Deutschland verbindet. Daher wurde das Filmprogramm begleitet von vier Abenden, an denen auch über diese Verbindungslinien gesprochen werden sollte, die Linien des Todes sind.

In Folge des Genozids an den Armeniern in den Jahren 1915/16 wurde im März 1921 in Berlin der Mord an Talaat Pascha, dem ehemaligen Innenminister des Osmanischen Reiches und einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord, verübt. Fast 90 Jahre später fand im Mai 2007 im Berliner Kino Arsenal die umfassendste Retrospektive des armenischen Films in Deutschland statt. Sie umfasste Werke von 1925 bis 2007 und präsentierte damit Filme aus mehr als 80 Jahren armenischer Filmgeschichte, sowohl Sowjetarmeniens, der Republik Armenien als auch der Diaspora. Begleitet wurde die Reihe von Podiumsgesprächen zu den Themen „Die Geschichte der armenischen Kinematographie und die Spuren des Genozids“, „Der Genozid an den Armeniern und die deutsche Mitverantwortung“, „Der Genozid und seine Spuren der Gewalt bis in die Gegenwart“ und „Film und Exil und die Melancholie des kinematographischen Blicks“.

Dabei stellten die Gespräche eine wesentliche und notwendige Ergänzung zum Filmprogramm dar, denn künstlerisches Schaffen findet niemals in einem Vakuum statt, sondern auch immer vor dem Hintergrund von Wirklichkeit - mag sie zeitparallel stattfinden oder bereits eingegangen sein in die Vergangenheit und damit Teil des Bewusstseins eines Volkes sein.

Jedes Ereignis der Wirklichkeit, augenblicklich geschehen, gerinnt schon im nächsten Moment zu Erinnerung und wird erzählbare Geschichte und damit Fiktion. Mag es sich dabei um die Biographie eines Menschen oder die Geschichte eines Volkes handeln. Immer sind diese aus Teilen Zusammengesetzes, die, wie die Perlen auf einer Schnur, am Ende, in retrospektiver Betrachtung, eine Kette bilden.

So ist Wirklichkeit wohl nur im Moment erlebbar und tatsächlich vorhanden, hat nur im augenblicklichen Geschehen Realität, während sie wenig später vom Jetzt abgelöst lediglich als Erzählung vom Leben wieder Gestalt gewinnen kann.

Es ist somit kein Widerspruch, in einer Veranstaltung wie „Karot – Retrospektive des armenischen Films“ neben die Aufführung von Filmen Gesprächsabende zu setzen, die versuchten, die Wirklichkeit, die geschehene, die stattfindende und die vielleicht sogar daraus sich entwickelnde zukünftige zu reflektieren.

Dabei wurde deutlich, dass ein so komplexes Thema wie der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich unter sehr verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann. Auch bezüglich der öffentlich vorgetragenen Beurteilung der deutschen Mitschuld oder Mitverantwortung gab es differierende Haltungen, die durch ihre Weichheit und Vorsichtigkeit, ihr taktisches Abwägen oder ihre moralische Kompromisslosigkeit und Klarheit gekennzeichnet waren.

Die Historiker, Soziologen, Philosophen und Publizisten unter den Gesprächsteilnehmern forschen schon lange dem Geschehenen nach, dem praktischen Vollzug des Völkermords in seinen vielfältigen Facetten, seinen Hintergründen und den Spuren, die er in der armenischen, deutschen und internationalen Geschichte hinterlassen hat. Dabei spielen besonders die Waffenbrüderschaft des Deutschen Kaiserreiches mit dem Osmanischen Reich und die Mitverantwortung des Deutschen Reiches für den Völkermord an den Armeniern eine Rolle, ebenso wie die Frage nach den Gründen für das 90 Jahre währende Schweigen aller deutschen Regierungen zu diesem Thema, das, trotz der Resolution des Deutschen Bundestages von 2005, in der deutschen Öffentlichkeit bis heute anhält.

Ganz anders stellte sich das Nachdenken der Künstler, der Filmregisseure und -wissenschaftler über die filmische Auseinandersetzung mit dem Völkermord dar. Die Armenier, die aus der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien an den Gesprächen teilnahmen, setzten sich vor allem mit dem Fragenkomplex auseinander, warum die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Genozid in der Sowjetunion so lange nicht stattfinden konnte, warum dies ein Tabu, sogar ein Verbot war, und warum kaum jemand wagte, sich zu diesem beklemmenden Thema direkt zu äußern, wenngleich der Schmerz des Völkermords die armenische Filmkunst von Anfang an wie ein Hintergrundleuchten begleitete. In diesem Zusammenhang gingen die Gäste sehr differenziert und mit teils konträren Meinungen auf die Filme ein und versuchten zu erklären, unter welchen politischen Umständen sie entstanden, welchen offiziellen Einwirkungen sie ausgesetzt waren.

Während des letzten Gesprächsabends reflektierten armenische Filmregisseure und

-schaupieler aus der Diaspora die Frage, was die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, nach der verlorenen Identität für sie bedeutet, wobei sich ein Unterschied im Umgang mit dieser Frage herausbildete zwischen Armeniern, deren Familien direkt nach dem Genozid in verschiedenen Ländern Zuflucht suchten und die weit weg in Kanada oder anderswo leben, und dem armenischen Regisseur Don Askarian, der aus Sowjetarmenien nach Westeuropa emigriert war. Die Erfahrungen mit dem real existierenden Sowjetarmenien führte zu einer sehr kritischen Interpretation der Begriffe Sehnsucht und Identität, die sich der in ihrer metaphysischen Orientierung nicht weniger realistischen Auslegung der Künstler aus Kanada deutlich entgegen stellte.

Interessierten, die keine Gelegenheit hatten, an den Gesprächen teilzunehmen, geben die Transkription der Gespräche und ihre Niederlegung in diesem Buch nun die Möglichkeit, sich auf diesem Weg einem tieferen Verständnis des armenischen Schicksals, des Völkermords, seiner Auswirkungen auf die Armenier, ihrem Verstreutsein in der Welt, ihren so unterschiedlichen schmerzlichen Erfahrungen und Schicksalen und des Anteils, den Deutschland daran trägt, zu nähern.

Jedes Erzählen, mag es scheinbar dokumentarisch getreu, mag es fiktiv ausgeschmückt sein, ist immer gleichsam real und imaginiert. Festhalten, einfrieren und manifest zur Ansicht bringen lässt sich das Leben nicht. Der dokumentarische Bericht und die poetische Erzählung von der Wirklichkeit können jeweils nur fiktiv ein Bild vom Leben oder seinen Fragmenten zeigen. Das Leben selber und mit ihm die in seinem Fluss sich aufwerfenden Ereignisse, sind unfassbar. Was bleibt ist ein Traum vom Leben – mag er, wie in diesem Fall, auch ein Alptraum sein – und die Sehnsucht, ihn zu verstehen.

 

Fred Efraim Kelemen, Dezember 2007

 

 

 

 

 


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