» DIE UNSICHTBARKEIT DES REALEN

Warum Filme auf der Leinwand sehen

Von Fred Efraim Kelemen
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Das Reale entzieht sich immer mehr unseren Blicken. Wir holen die Welt nach Hause durch den TV-Monitor und das Internet, jedoch werden wir lediglich über sie informiert; wir erfahren sie nicht.Es ist eine wesentliche Entscheidung, ob wir das Leben real erfahren wollen, auch auf die Gefahr hin, von ihm erschüttert zu werden, oder ob wir uns lediglich aus sicherer Deckung über es informieren.Film ist kein Medium. Film ist eine Kunst und eine Sprache. Wie jedes Werk der Kunst ist ein Werk der Filmkunst real; nämlich der materiell, der real gewordene Ausdruck eines Künstlers. Und wie bei jeder Kunst, lebensnotweniger sogar als bei manchen anderen Künsten, ist die Art und Weise der Präsentation eines ihrer essentiellen Elemente. So wie eine Theaterinszenierung erst in dem Moment existiert, da sie aufgeführt wird, ein Musikstück erst, wenn es erklingt, erwacht ein Werk der Filmkunst erst zu Leben, wenn es in einem Kino (dunkler Raum, Filmprojektor, Leinwand und Tonsystem) mit einem Projektor auf die Leinwand projiziert wird. Ein Filmstreifen hat zusammengerollt in der Filmbüchse einen todesähnlichen Schlaf. Erst durch die Geschwindigkeit und das Licht, mit dem seine Bilder auf die Leinwand geworfen werden, bekommt er jene Realität, die das Kino ist, die den Zuschauer gebannt teilnehmen läßt an jenem traumähnlichen Leben, das ihn real berührt, erschüttert, fühlen und denken läßt. Ein Film als Video- oder DVD-Kopie auf einem Monitor angesehen vermittelt lediglich eine Information über den Film ähnlich dem Anblick einer Postkarte, die eine Abbildung eines Werkes der Malerei zeigt. Wer je ein Gemälde von Vincent Van Gogh als Original sah, die plastischen Linien, die sich aufwerfenden Berge aus Ölfarben, wer je dem Pinselstrich und damit der Hand und dem Rhythmus seines Malens und Denkens gefolgt ist, wird ein Erlebnis damit gehabt haben, das ihm der Anblick einer Postkarte des selben Werkes niemals vermitteln kann. Es besteht ein Unterschied darin, nach dem Schnittmuster eines Kleidungsstücks dieses in einem qualitativ guten und für diesen Schnitt optimalen Stoff zu fertigen oder in Polyester also Plastik. Einen Film als Video- oder DVD-Kopie zu sehen, ist seine Variante in Plastik. Die essentiellen Parameter des Films - Zeit, Rhythmus, Licht, Farbe, Ton, Textur - sind nur durch seine Projektion als Film auf eine Leinwand zu erhalten. Eingezwängt in einen Monitor und technisch reduziert auf eine Videokassette oder DVD, entziehen sich diese Elemente der Wahrnehmbarkeit und sind damit verschwunden, was dem Film gleichsam seines Herzschlags beraubt. Alleine die Wahrnehmung der Zeit ist auf einem Monitor, dessen Fläche mit einem Blick zu erfassen ist, etwas völlig anderes als auf einer metergroßen Leinwand. Im Monitor wird die Zeit, dieses wesentliche Element des Films, schlichtweg ausgelöscht, da sie unerfahrbar wird. Dies ist ein Grund, warum ich mir einen Film beim Schneiden und Montieren immer wieder projiziert auf einer Leinwand ansehe. Das Gleiche gilt für die Feinheiten des Tones, des Hell und Dunkel und die Farben des Bildes.So viele Filme der Geschichte dieser Kunst haben wir niemals wirklich gesehen, niemals wirklich erlebt, da wir lediglich ihre deformierte Video- oder DVD Kopien angeschaut haben, also nicht mehr als eine Information von ihnen erhielten, eine vage Ahnung, bei der uns das Wesentliche entgleitet. Wir befinden uns in einem Dilemma. Und dies ist nur ein Symptom einer tiefer liegenden kulturellen und geistigen Krise. Angesichts der erschütternd armseligen Situation der Zugänglichkeit von alten sowie neuen Filmen in Form der Projektion von Filmkopien in Kinos ist es Ausdruck dieses Dilemmas, daß das Anschauen von Filmen als Video- oder DVD-Kopie die einzige Möglichkeit zu sein scheint, sie dem völligen Verschwinden zu entreißen, obgleich ihr wirklicher Herzschlag wohl für immer zum erliegen gekommen ist. Was bleibt, ist die Hoffnung, dem einen oder anderen doch noch eines Tages lebendig in der Dunkelheit eines Kinos zu begegnen und von ihm erschüttert zu werden.




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The Guardian, 29. September 2006