» DER LETZTE TANZ

Von Fred Kelemen
..............................................................................................................................................................

Die Freundschaft zwischen Béla Tarr und mir begann mit einem Blick.
Béla war nach Berlin gekommen, da im Kino Arsenal eine Retrospektive seiner Film präsentiert wurde. Wir sassen, einander unbekannt, zufällig in dem selben Café an entfernten Tischen, doch wir bemerkten einander und unsere Blicke trafen sich. Ein paar Tage später sahen wir uns zufällig wieder im Büro der Filmakademie (dffb). Wir sprachen mit einander. Das war der Beginn unserer Bekanntschaft, die zu Freundschaft wurde und zu gemeinsamem Arbeiten. Dieser erste Augenblick liegt nun 22 Jahre zurück und ein langer Weg führte uns bis zum letzten Film „The Turin Horse”.
Während dieser 22 Jahre gab es mehr Blicke als Worte. Auch beim Drehen vergingen Tage, ohne dass wir viele Worte wechselten; unsere Zusammenarbeit beim Drehen geschah oft viele Stunden lang schweigend.
In diesem Schweigen liegt ein Wissen um etwas Gemeinsames, das uns verbindet, um eine Haltung, eine stillschweigende Übereinkunft, einen synchronen Herzschlag, auf den wir uns einlassen in einem geheimen Bündnis, das geheimnisvoller ist, als wir es denken können. So entfaltet sich auch das Schweigen in den Filmen vorangetrieben von einem Herzschlag, der im Einklang verbunden ist mit dem Schweigen einer Welt, die weiss, dass nichts geschieht als das Vergehen der Zeit und das Ringen der Menschen, diesem Vergehen etwas entgegen zu setzen, um in dieser verrinnenden Zeit nicht unterzugehen. Vergeblich. Doch dieses Ringen bringt das Schönste und das Hässlichste des Menschen hervor; seine Kreativität und seine Verzweiflung, sein Leuchten – schrill, grausam, gewalttätig und sanft, heilend, bewahrend. Dieses Ringen gibt dem Menschen Leben, obwohl er ringend doch den Fluss der Zeit entlang treiben und in jenem schwarzen Loch verschwinden muss, in dem alles Zeitliche versinkt.
Die Filme von Béla entwerfen keine Visionen. Sie beschreiben ein Sein. Sie konstatieren eine Bewegung in den Abgrund. Bélas Filme sind ein Reigen des Verschwindens.
Béla ist kein Mystiker. Er ist ein Entmystifizierer, ein Anti-Mystiker. Getrieben von jenem Herzschlag, der das Echo der Welt des Verschwindens ist, zerschlägt er die Mythen von Nationalismus, Kapitalismus, weltanschaulichem Absolutismus, die uns als politische, ökonomische, religiöse Ideologien umzingeln und uns den Blicke rauben auf eine freiere, weitere Ebene. Jene Mythen einer Welt, die nichts wissen will vom Klang des Schweigens, das das Fliessen der Zeit erzeugt, jenes Rauschen, das als Stille jedem Ton innewohnt, als Dunkelheit den Malgrund des Lichtes bildet, als Tod den Boden bereitet, aus dem das Leben erwächst und in dem es seine Wurzeln schlägt.
Doch Béla und ich wollen etwas wissen vom Rauschen des Seins, jener Dunkelheit und Stille und jenem Boden, aus denen alles kommt und in die alles zurück fällt. Wir wollen sie erforschen, wir wollen Löcher reissen in das illusionäre Gewebe unsrer artifiziellen Zivilisation, um so Durchflussorte zu schaffen für jene Wirklichkeit, die dahinter verborgen ist wie das Skelett im Fleisch, und die so zu uns hervortreten kann.
Die Zeit in Bélas Filmen ist, anders als im Falle Andreij Tarkovskijs, nicht metaphysisch; die Zeit in Bélas Filmen ist existenziell. Sie muss erlitten werden.
Die Sehnsucht nach der Schönheit, nach der Klarheit, Symmetrie und kompositorischen Ausgeglichenheit der Bilder ist möglicherweise Gegenentwurf und Ausdruck einer Wunde, die gerissen wird von einer Welt, die hinfällig und aus den Fugen ist, die taumelnd ihrem Verschwinden entgegenstürzt, wie die einzig wirklichen Helden – die einzigen, denen wir glauben können -, die trunken, ratlos, von Verzweiflung getrieben lebenslang auf Wegen ziehen, die nirgendwo hin führen als zum Ausgangspunkt, zum Urgrund, zu jenem Schweigen, jenem Dunkel, aus dem alle Wege kommen und zu dem sie alle führen.
Und da daran nichts zu ändern ist, hallt uns manchmal auch das heisere Lachen von Sysiphus aus Bélas Filmen entgegen.
Und so zieht jene Karawane aller Helden aus Bélas Filmen in jenes schwarze Loch am Ende von „The Turin Horse”, in dem die beiden Charaktere jenes letzten Filmes nach dem letzten Aufscheinen ihres inneren Lichtes, nachdem schon alles Licht verloschen ist, verschwinden; und alle Filme mit ihnen.
So endet unser letzter Film, dessen jede Sequenz, jedes Bild ich auch als Teil meiner visuellen Abschiedsweise für Béla gedreht habe, wie unsere erste Begegnung mit einem Blick; er führt ins Schwarz, ins Schweigen. Die Zukunft ist ein schwarzer Rauch.

..............................................................................................................................................................

Filmbulletin 4.2012,54. Jahrgang, Heft Nummer 323, Juni 2012