» ANRUFUNG / Պաղատանք - Ein filmisches Memorial –
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„Etwas Schreckliches ist geschehen [...]. Man sollte nicht glauben, dass dieses Schreckliche [...] spurlos verschwunden ist. Vielleicht ist es unbemerkt in unserem Sein eingeschlossen, und wir wissen nichts davon, weil wir es ständig begehen. Die Finsternis der Menschheit vor der Sintflut war auf alle Fälle kleiner als die der Menschen heute.“
(Béla Hamvas „Henoch“)

Der Titel dieser Filmreihe, die an den Genozid an den Armeniern vor 100 Jahren erinnert, verweist auf das, was Kunst immer auch ist; eine Anrufung von Geistern. In diesem Fall handelt es sich sowohl um die Geister des Genozids, die in jedem Genozid zu jeder Zeit - vom ersten Völkermord des 20 Jahrhunderts, den die Deutschen ab 1904 in Namibia verübten, über den Genozid an den Armeniern, die von den Deutschen über das jüdiscbe Volk gebrachte Shoah bis zu den Massakern der jüngsten Vergangenheit in Srebrenica und anderswo - in Erscheinung treten, als auch um die Geister der Ermordeten und ihrer Nachkommen.
In die Filmgeschichte Armeniens hat sich die Erfahrung des Genozids von Anfang an eingebrannt. Die Spur dieses Schmerzes wird immer wieder sichtbar bis zu den Filmen heutiger Zeit. Stehen die Schöpfer der ersten Filme noch unter dem Eindruck des Genozids aus eigener Augenzeugenschaft oder der ihrer Eltern, so sind die späteren Filme Werke der Enkelinnen und Enkel, in die sich die Erinnerung von Völkermord, Emigration, Diaspora und die Sehnsucht und Suche nach der Realität einer lange verlorenen, inzwischen mythischen Heimat als Wundbrand fortgesetzt hat.
100 Jahre Genozid an den Armeniern sind auch fast 100 Jahre Filmgeschichte, sind fast 100 Jahre Anrufung und Hoffnung durch Erinnerung und gegenwärtiges Leben.
In Filmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, wie dem ersten, in den USA gedrehten, Film über den Genozid „Ravished Armenia“ von 1919, der als Fragment vorliegt, über die armenischen Filme „Wir“, „Nahapet“ und „Nostalgia“ bis zu Filmen aus der jüngsten Vergangenheit von armenischen Regisseurinnen und Regisseuren aus Armenien und anderen Ländern und in letzter Zeit auch türkischen Filmemacherinnen und Filmemachern wurde immer wieder an den Genozid erinnert und der Versuch unternommen gegen das Vergessen die Stimme zu erheben. Denn, wie es in einem jüdischen Sprichwort heißt, das Vergessen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Zukunft braucht Erinnerung und nicht Gleichgültigkeit. Elie Wiesel schrieb „Ich habe immer daran geglaubt, daß das Gegenteil von Liebe nicht Haß ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, es ist das Ende eines Prozesses.“ So sind die Filme auch eine Anrufung gegen die Gleichgültigkeit nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft gegenüber.
Das Erzählen ist der Hüter der Zeit. Im Erzählen erfährt der Schmerz seine Befreiung und seine Heilung. In der Filmkunst wird die Leinwand zur Membran der Bilder einer inneren Suche. In Schwingung gebracht, entringt sie dem Schweigen einen beschwörenden Klang, der auch ein Flüstern, eine Klage oder ein Schrei sein kann.
Über die emotionale Berührung hinaus regen die Filme uns an, nachzudenken und vorzudenken, zu verstehen und zu erkennen, was den Geistern des Genozids, aller Genozide, Vitalität verleiht und sie immer wieder auferstehen und ihr nicht nur gegen die Menschen eines bestimmten Volkes gerichtetes, grundsätzlich menschheitsfeindliches Werk versehen läßt. „In den Bildern nur das zu sehen, was einen allgemeinen Abscheu vor dem Genozid bestätigt, [,...] bedeutet auf eine Auseinandersetzung zu verzichten. Es bedeutet, die Politik außer acht zu lassen.“ (Susan Sontag. „Das Leiden anderer betrachten“)

Von 7. März über Karfreitag und Ostersonntag bis zum 25. April soll mit dieser weltweit umfangreichsten Filmreihe anläßlich des 100. Gedenkjahres zum Genozid an den Armeniern eine filmische Anrufung versucht werden.

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(Fred Kelemen)

Programm: http://www.gorki.de/spielplan/2015-03/anrufung/1331/