» Brief an Elem Klimov / Berlin, 29. Oktober 2003
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Sehr verehrter Elem Klimov,

schon lange wollte ich Ihnen schreiben. Lange ist es nicht gelungen. Nun ist es zu spät.
Das letzte Geheimnis des Lebens, der Tod, hat sich ihnen offenbart.

Der Gedanke, Ihnen einen Brief zu schicken, kam mir zum ersten Mal vor etwa acht Jahren, als ich mich bei Andrej Plachov nach Ihnen erkundigte und erfuhr, wie schlecht es Ihnen ging. Zurückgezogen in Ihrer Moskauer Wohnung, Ihrer Verzweiflung übergeben, wollte ich einen Appell an Sie richten, Ihre wertvolle Seele nicht in Dunkelheit zu verschließen, sondern den Kampf aufzunehmen und weiter für Ihre wundervolle Kunst zu wirken. Ich bildete mir nicht ein, mein Brief könnte rettend sein, man kann einen anderen Menschen nicht retten, aber ich hoffte, er könnte Ihnen ein Zeichen sein aus einer fernen und doch sehr nahen Welt von einem Menschen, dessen Existenz Ihnen niemals zu Bewußtsein gekommen war, der jedoch mit Ihnen in dieser Zeit auf dieser Erde lebte, der Ihren Lebensweg einmal nur flüchtig kreuzte, in dessen Seele Ihre Arbeit jedoch eine tiefe Spur hinterlassen hat. Das war vor mehr als 15Jahren anlässlich einer Retrospektive Ihrer Filme in der Akademie der Künste in Westberlin. Ich sah dort zum ersten Mal Ihre Filme und hörte Sie darüber sprechen. Noch Stunden nach der Vorstellung von »Komm und sieh« (so der Titel Ihres Filmes »Idi i smotri« in westdeutscher Übersetzung) konnte ich kein Wort sagen. Kein Spielfilm hat den Schmerz des Krieges so tief und unauslöschlich in die Seelen vieler Menschen gebrannt. Und in keinem Film wurde uns der unendlich kostbare Gedanke der Gnade so eindrücklich vor Augen geführt, wie in jener Szene, als der vom Grauen des Krieges schwer gezeichnete Junge auf das Bild des Kindes Adolf Hitler nicht schießt.
Es waren im Besonderen Ihre Filme und die dahinter stehende, von Ihnen angenommene und auf sich genommene moralische Verantwortung, die entscheidend für mich waren, Filme drehen zu wollen und einen Glauben an die mythische Kraft und gesellschaftliche Notwendigkeit dieser Kunst zu entwickeln.

Jeder Film ist politisch, denn an jeden Regisseur stellt sich die Frage nach der moralischen Verantwortung. Nicht jeder beantwortet sie mit Ihrem Mut in dieser Konsequenz, nicht jeder nimmt sie an. Nicht jeder verfügt über diese Haltung, die in jedem Bild, in jeder Szene sichtbar ist, ihre Manifestation erfährt und zu jener seltenen Ästhetik des Spirituellen führt, die auch eine Ästhetik des Menschlichen ist. Das Bewußtsein ihrer Bedrohtheit und ihres zunehmenden Verlöschens im dumpfen Krieg des Marktes um Profite, der alles Zarte, Stille und Wertvolle im Menschen auszumerzen fortfährt, ohne in der Lage zu sein, bleibende Werte zu stiften, und dem sich schon zu viele angeschlossen haben, kann irgendwann in eine Trauer münden, die zur Verzweiflung wird und tödlich ist. Obgleich der Widerstand auch schwer ist und oft aussichtslos scheint, so kann und muß und wird er doch immer und immer wieder geleistet werden, so lange es Menschen gibt, die in sich jenes unveräußerliche Wissen um das Geheimnis der Heiligkeit ihrer Kunst und ihres Lebens tragen. »Wenn es nichts Heiliges mehr gibt, dann gibt es auch keinen Schutz mehr für unsere Seele. Dann lebt unsere Seele in dieser Welt schutzlos. Wir werden dann seelenlos. Für uns ist es heilsam, wenn wir dem Heiligen in unserem Leben einen Raum geben.« (A. Grün) Ein solcher Raum könnte das Kino sein. Und Ihre Filme haben das Kino immer wieder zu einem heiligen, da heilenden Ort verwandelt. Die größte Heilung unserer Seele wird in dieser Welt wohl durch ihre Erschütterung bewirkt.

Lieber Elem Klimov, ihr Kino der Erschütterung darf nicht an einem Ende angekommen sein.Doch vieles, was nicht sein darf, geschieht. Sie hätten auch nicht sterben dürfen.

Fred Kelemen
Berlin am 29. Oktober 2003
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Fred Kelemen