» Film ist Höhlenmalerei | Mit Fred Kelemen sprach Erika Richter | Juni 2002
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Film ist Höhlenmalerei

Die Filme
E. R.: In Deinen drei Spielfilmen geht es um Menschen, die auf der untersten Ebene der sozialen Leiter existieren, die eine große Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben haben, ihre Menschlichkeit bewahren wollen, die aber den übermächtigen Umständen ausgeliefert sind. Wie kommst Du auf solche Themen und auf solche Geschichten?
F. K.: Ich glaube, die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten, weil man vermutlich nicht so genau weiß, warum man eine Sensibilität für bestimmte Themen hat. Warum gerade solch ein Thema? Es interessiert mich. Es beschäftigt mich. Ich denke darüber nach. Es gibt für mich eine Notwendigkeit, darüber zu sprechen. Ich möchte nichts tun, für das es bei mir keine innere Notwendigkeit gibt. Und ich glaube, es gibt auch eine Notwendigkeit in der Gesellschaft, in der wir uns befinden, das zu thematisieren und zu versuchen, durch eine Reflexion über solche Phänomene, solche Wirklichkeiten, die Gedanken da-rauf zu lenken, und auch andere dafür zu sensibilisieren, ihren Blick auf diese Wirklichkeit zu richten. Ich zeige die Men-schen in ihrer Verlorenheit in einer von ihnen geschaffenen unheimlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft also, in der sie nicht heimisch werden können, in der sie nichts von dem finden können, was ihrer Sehnsucht entspricht, was sie von ihrem tiefen Gefühl des Mangels erlösen könnte.

E. R.: Was war denn für "Verhängnis" der Ausgangspunkt. Eine Figur? Ein Bild? Eine Stimmung?
Ein Fetzen von einem Dialog?
F. K.: Wenn man nicht in einer völlig isolierten Welt lebt, hat die Zeit, in der man sich befindet, selbstverständlich ihre Wirkung auf einen. Zumindest wenn man Antennen dafür besitzt und diese empfänglich läßt, sie pflegt, in Ordnung hält, sie offen läßt für alles, was dort ankommen mag. "Verhängnis" entstand wenige Jahre nach der Maueröffnung, als sehr viele Russen, sehr viele Rumänen und Polen nach Berlin kamen; Osteuropa mit seiner Armut, Verzweiflung, Orientierungs-losigkeit und seinem unbedingten Willen zu überleben, drang in die geöffnete Stadt ein. Das war für viele Deutsche eine Konfrontation mit einer Wirklichkeit, einer geographisch sehr nahen, die sie lieber übersehen hätten. Zusätzlich zu dieser Grundstimmung gab es einen konkreten Moment, der mich auf die Idee zu dem Film brachte. Das geschah in einer Kneipe, die von Jugoslawen geführt und von vielen Jugoslawen, die vor dem Krieg geflüchtet waren und nun hier lebten, besucht wurde. Jugoslawische Zeitungen lagen aus. An einem Nachmittag saß ich dort und wartete auf jemanden, mit dem ich verabredet war. Mir gegenüber saß ein Kroate, der sich mit der Kellnerin in seiner Heimatsprache unterhielt. Er sah sehr abgerissen aus, bestellte ein Bier, trank und blickte immer wieder auf den TV-Monitor, wo die Video-Clips des Senders MTV liefen. Es gab diese ungeheure Diskrepanz zwischen dem Erscheinungsbild des Mannes, dem Ort, wo er möglicherweise herkam - aus dem Krieg vielleicht -, und dieser MTV-Welt. Das prallte plötzlich so aufeinander. Ich hatte auch das Gefühl, daß er das alles aus einer großen Distanz und mit einer enormen Befremdung betrachtete. Dadurch lag in den MTV-Bildern natürlich ein Zynismus gegenüber der Realität des Mannes, die ich zwar nicht kannte, aber vermutete. Als die Kellnerin bei ihm kassierte, bezahlte er mit einem 100-DM-Schein, den sie gegen das Licht hielt, um zu prüfen, ob er echt war. Ich begann, mir vorzustellen, was der Mann tun könnte, nachdem er aufgestanden war. Ich dachte: Vielleicht geht er rüber zum Billardtisch und versucht das Geld, das er noch hat, zu vermehren, indem er mit den anderen darum spielt? Diesen Gedanken habe ich weitergesponnen. Vielleicht hat er eine Freundin, dachte ich. Vielleicht geht er nach dem Spiel zu ihr. Was passiert dann? Dieses "Was-passiert-dann-Spiel" spiele ich eigentlich immer, wenn ich Drehbücher schreibe. Ich gehe von den Perso-nen aus, weil ich glaube, daß Menschen Schicksale erzeugen und nicht umgekehrt. Man gerät in eine Situation, reagiert und erzeugt entsprechend der Reaktion eine neue Situation, eine neue Realität, die wiederum eine Reaktion erfordert und auch hervorruft usw. Das heißt, ein Mensch "X" würde in einer bestimmten Situation eine andere Realität erzeugen als ein Mensch "Y", der sich in der selben Situation befände. Es gibt in jeder Situation Entscheidungsmöglichkeiten, entweder in die eine Richtung oder in eine andere. Es ist vom Einzelnen abhängig, in welche Richtung er sich bewegt. Das Schicksal eines Menschen ist individuell. Und trotz der Individualität unserer Biographien, der Graphik unserer Leben, sind diese schicksalhaft, da wir schicksalhaft an uns selbst gekettet sind - und an unser Menschsein; mit all unseren Hoffnungen, Sehnsüchten und unserem Scheitern. Da heraus und aus vielen anderen kleinen Gedankenströmen hat sich die Idee zu "Verhängnis" gebildet. Diese habe ich dann einigermaßen vage schriftlich fixiert, Schauspieler gefunden, vor allem die wundervollen Sanja Spengler und Valerij Fedorenko, der kein Schauspieler war, sondern arbeitsloser Opernsänger aus Moskau, und gedreht.

E. R.: So einfach?
F. K.: Ja, so einfach. Das ging damals noch. "Verhängnis" entstand im Rahmen einer Seminararbeit, nachdem ich drei Jahre und ein paar Monate vorher an der dffb mein Studium begonnen hatte, und wurde dann zu meinem Abschlußfilm erklärt, da mein Etat eh schon aufgebraucht war.

E. R.: Da brauchtest Du nirgendwo etwas einzureichen.
F. K.: Ich hätte eigentlich ein Drehbuch, das es eh nicht gab, dem damals neuen Direktor der Akademie, Reinhard Hauff, und dem Studienleiter vorlegen müssen, aber das war nicht der Weg, den ich gehen wollte.

E. R.: Welche Rolle spielt dabei von Anfang an das Bild?
F. K.: Das Bild ist für mich wichtig, natürlich. Aber ein Bild ohne Inhalt ist nichts. Wenn ein Bild vermag, das, was gerade in mir vorgeht, zu fassen und auszudrücken, dann bleibe ich dabei. Für mich hat der Jugoslawe mit seiner abgefetzten Kleidung, seinem Bierglas, seinem 100-DM-Schein, seinen Blicken auf den Fernsehmonitor in dieser von kroatischen Kriegs-flüchtlingen besuchten Kneipe etwas von der Zeit ausgedrückt, wie ich sie damals empfand. Das hatte mit all seiner Realität als Bild für mich etwas Metaphorisches. Diese Verlorenheit, diese Person, die auf dem Monitor die Bilder einer Kultur sah, die seiner fremd waren, und die seiner möglichen Realität völlig entgegenstanden. Das war nicht Teil seines Lebens. Seine Welt war eine Welt, in der Krieg herrschte.

E. R.: Wie war das bei "Frost"? War es das Eis?
F. K.: Die Idee zu "Frost" entstand in einer regnerischen Stunde an einem Nachmittag wieder in einem Café. Öffentliche Orte wie Cafés sind inspirierend für mich. Ich hatte eigentlich schon gehen wollen, als es zu regnen begann, und so blieb ich. Ich schrieb drei Seiten, da war der Regen zu Ende, und ich hatte eine gewisse Linie für den Film. Der Auslöser war wieder eine reale Situation. Ein Mann stand auf der Spitze eines sehr hohen Baukrans, möglicherweise leicht betrunken, und brüllte: "Marianne", immer wieder "Marianne". Ich dachte: Warum steht der da oben und brüllt "Marianne"? Vielleicht ist Marianne seine Frau und ist ihm fortgelaufen. Und er reagiert im Schmerz so darauf. Warum ist sie fortgelaufen? Vielleicht hat er ein Kind usw. So kam ich halt irgendwie auf die "Frost"-Geschichte. Das Bild selber kommt im Film nicht vor. Wollte ich zwar immer drehen, hat sich aber nicht ergeben, weil der Film einen anderen Weg gegangen ist. Alles hat sich stark auf das Kind und auf die Frau verlagert, eigentlich auf das Kind. Das Kind ist die Hauptfigur. Es gab bei mir ein sehr starkes Bedürfnis, einen Film über Kindheit zu drehen. Einen "anderen" Film über Kindheit, in dem Kindheit nicht verklärt oder romantisiert wird, wo ein Kind ein Opfer ist, das sich schließlich wehrt, das zum Verräter werden muß, um sich zu retten, und nicht nur nett ist und niedlich. So ein Bild - dieser Mann auf dem Baukran - kann viele Ebenen in einem treffen, die vorhanden sind, ohne daß man von ihnen weiß. Das Gefühl, daß ich einen Film über Kindheit drehen wollte, und das vielleicht ein sehr altes Gefühl ist, hat sich plötzlich mit diesem Bild verbunden. Manchmal trifft ein Bild einen Punkt in einem, über den man lange nicht nachgedacht hat, und plötzlich entsteht aus dieser Verbindung etwas. Das ist wie eine chemische Reaktion. Es ist ein magischer Prozeß, den man in seinem Ursprung nicht kontrollieren, nicht bestimmen kann. Wenn es geschehen ist, muß man damit umgehen; sehr klug, sehr behutsam und sehr mutig. Man darf die Flamme, die entzündet wurde durch diese innere Explosion, nicht verlöschen lassen. Das kann schwierig sein, denn von außen wird viel Wasser darauf gegossen.

E. R.: Ein Film über Kindheit – das hat aber nicht in erster Linie etwas mit eigener Kindheit zu tun? Oder?
F. K.: Das hat zum Teil mit eigener Kindheit zu tun, mit Gedanken über Kindheit, mit der Kindheit von anderen Leuten, mit Beobachtungen, mit Erfahrungen. Es war wie bei all meinen Filmen. Beobachtung, Erfahrung, Imagination. In der ersten Phase des Drehs zum Beispiel, wenn das Team abends beim Essen zusammensaß, hat jeder Kindheitserlebnisse erzählt. Es gibt in dem Film kein Bild, das nicht wenigstens einer aus dem Team erlebt hat. Ich wollte nichts erfinden. Es hat alles einen realen Hintergrund.

E. R.: Ist das, was du vorhast, beim Drehen für die Vorschläge von anderen offen?
F. K.: Ja. Unbedingt. In dem Fall war das sogar sehr stark so. Es kann in einem anderen Fall weniger stark sein. Aber bei "Frost" gab es auch die Idee, sich einfach gemeinsam auf die Reise zu begeben. Sowohl physisch als auch mental. Es war ein kleines Team, sechs, sieben Personen. Wir fingen Weihnachten an zu drehen. Es war klar, daß ich Bilder auf dem Weih-nachtsmarkt drehen wollte, und die sind nur bis zu einem bestimmten Datum zu bekommen. Anschließend haben wir in der Silvesternacht in einer Kneipe gedreht. Fast dokumentarisch mit Anna Schmidt und Mario Gericke, den beiden erwachsenen Hauptdarstellern, und den Gästen, die in dieser Nacht dort waren und von denen fast jeder eine Knastvergangenheit hatte. Einer von ihnen saß zum Beispiel in der DDR im Gefängnis, weil er mit einem Freund den Bürgermeister seiner Stadt aufgehängt hatte. Kein einfacher Dreh. Wenige Tag später sind wir losgefahren, haben zwischen Berlin und der polnischen Grenze zwei, drei Wochen auf dem Land verbracht und das gedreht, was uns begegnete. Ohne je den Gedanken zu verlieren, wohin es letztlich führen sollte. Einen Film so zu drehen ist ähnlich einer Reise, bei der man weiß, daß man von "A" nach "B" fährt, aber nicht unbedingt weiß, wie es unterwegs aussieht. Da muß man eine Menge zulassen. Vielleicht ist der direkte Weg gar nicht der beste. Dann fährt man eben durch eine andere Stadt, oder jemand im Auto sagt: Laßt uns doch noch mal dieses oder jenes Dorf ansehen und herausfinden, was es dort gibt. Filme auf diese Art zu realisieren, finde ich sehr schön. Ich meine, wenn das Ziel klar ist, sich der Weg aber gewissermaßen während der Arbeit selber findet. Und jeder Dreh ist eine Reise, auf die man sich gemeinsam begibt. Man kann auf der Landkarte die Route abstecken, aber etwas darüber in Erfahrung bringen kann man nur, wenn man sich auf den Weg begibt. Es gehört immer die Offenheit dazu, auf die realen Ereignisse zu reagieren, sich überraschen zu lassen. Man kann nicht alles vorher theoretisch klären. Es ist auch immer eine Expedition.

E. R.: Du hast vorher Überhaupt nicht recherchiert?
F. K.: Ich kannte die Gegend natürlich etwas. Ich wußte, wie es dort im Sommer aussah. Aber ich wußte nicht, was wir im Winter vorfinden würden. Ich hatte Ideen für bestimmte Szenen, entschied aber, daß sie nicht gedreht würden, wenn die da nicht realistisch wären. Dort herrschte Totenstille, kein Mensch auf der Straße, wir konnten Stunden lang fahren, ohne einem Menschen zu begegnen. Nur selten kam uns jemand entgegen. Der Film sollte also beherrscht sein von dieser Leere, von dieser Stille, von diesem langen Unterwegssein, von diesem langen Gehen, ohne daß man an irgendeinen Punkt kommt. So ist es in dieser Landschaft besonders in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Da passiert nicht viel. Alle ziehen sich zurück. Es ist eine Zwischenzeit, in der das Leben erstarrt zu sein scheint.

E. R.: Dazu kam dieser besonders harte Winter. Das ist ja nicht jedes Jahr so.
F. K.: Es war extrem kalt. Zwanzig Grad unter Null. Aber nach ein paar Tagen stellte sich ein Gefühl für diese besondere Schönheit ein, die in der Kälte herrscht. Keiner von uns hatte Lust, nach Berlin zurückzufahren. Wir gewöhnten uns an diese Stille und Kälte. Die Kälte hat neben ihrer physischen auch eine große metaphysische Kraft. Es stellt sich ein seltsamer, nicht zu beschreibender Effekt ein, wenn man eine Weile in der Kälte ist, eine Art Zauber.

E. R.: Ich frage jetzt auch noch nach "Abendland".
F. K.: Da ist mir der Ausgangspunkt nicht so präsent. "Abendland" hat eine längere Geschichte. Der Film sollte eigentlich durch einen anderen Produzenten schon einige Zeit früher realisiert werden, was aber nicht funktionierte. Ich wandte mich mit dem Projekt also an einen anderen Produzenten. Ich trug das Vorhaben ziemlich lange mit mir herum. Bei "Frost" sind von der ersten Idee bis zum Dreh nur ein paar Monate vergangen, bei "Abendland" dagegen eine viel längere Zeit. Die Idee entstand fast zeitgleich wie die Idee zu "Verhängnis". "Frost" drehte ich, während ich darauf wartete, ob aus "Abendland" in den Händen des ursprünglichen Produzenten noch etwas werden würde. Ich kann nur schwer tatenlos herumsitzen und warten. Dabei vergeht eine Menge kostbarer Lebenszeit, was mir immer wehtut. Ein wichtiger Auslöser für mich war, daß ich etwas über Arbeitslosigkeit und Liebe machen wollte. Das hielt ich in dieser Verknüpfung für ein sehr wichtiges Thema, und ich fand, darüber gab es nichts in Deutschland in der jüngeren Ver-gangenheit. Mir fiel zumindest kein Film aus der letzten Zeit ein. Ich wollte nicht in einer Form von sozialem Kitsch davon erzählen, sondern davon, was es bedeutet, ohne Arbeit zu sein auch jenseits der materiellen Not, die natürlich ein wichtiger Faktor ist. Aber daneben gibt es noch ganz andere Dimensionen. Und diese anderen Ebenen waren mir wichtig. Ohne Arbeit zu sein bedeutet zum Beispiel, plötzlich entsetzlich viel Zeit zu haben. Die Tageszeit ist nicht mehr reguliert, wird nicht mehr von jemandem verwaltet. Vorher war ein Arbeitstag acht Stunden lang, die man hinter sich bringen konnte. Eine Stunde - das sind plötzlich sechzig Minuten, die langsam schmerzlich spürbar verrinnen. Einem Menschen die Arbeit zu nehmen, bedeutet mehr, als ihm nur die materielle Grundlage seiner Existenz zu nehmen. Darin liegt eine große Brutalität, weil wir in einer Gesellschaft leben, die sich über Erfolg, Arbeit etc. definiert. Wenn das wegfällt, was ist ein Mensch dann noch? Ein Arbeitsloser ist ja von seiner Wertigkeit her nur ein halber Mensch. Er produziert nichts mehr, und er kann bald auch nichts mehr konsumieren. Er ist überflüssig, denn das sind die Kategorien, nach denen Menschen in unserem Gesellschaftssystem beurteilt werden, das zutiefst anti-solidarisch ausgerichtet ist. Wenn er dann auch noch in seiner sogenannten "Beziehung" Probleme hat, dem Mann die Frau verloren geht zum Beispiel, dann bleibt von diesem halben Menschen sozusagen gar nichts mehr übrig. Wenn das Selbstwertgefühl verschwindet, durch Arbeitslosigkeit verursacht, verlischt auch die Liebesfähigkeit, das Vertrauen in Liebe, das Vertrauen, geliebt zu werden, die Fähigkeit, Liebe zu zeigen, zu geben. Das ist ein essentielles Problem, mindestens so essentiell wie der materielle Aspekt der Arbeitslosigkeit; vielleicht sogar essentieller. Nicht in einen Arbeitsprozeß eingebunden zu sein, ist ja erst einmal nichts Schlechtes. Es könnte doch angenehm sein, nicht arbeiten zu müssen, nicht verwaltet zu werden, kein Lohnsklave zu sein, aber in der Gesellschaft, in der wir uns bewegen, erzeugt diese Situation neben der erdrückenden materiellen die anderen schlimmen Krisen, weil die Menschen darüber definiert werden, was sie leisten, wie sie verwertet werden können, was sie produzieren, wieviel sie konsumieren können. Was tut also ein überflüssiger Mensch? Er leidet, und irgendwann wehrt er sich vielleicht oder er wird stumm. Er könnte ja ein glücklicher Arbeitsloser sein, der endlich einmal Zeit für sich selbst hat, vielleicht um nachzudenken, um zu einem wichtigen Punkt zu kommen. Aber diesen Weg bietet unsere Gesellschaft nicht. Es gibt kaum eine Möglichkeit, der Verdammung durch die gesellschaftliche Stigmatisierung zu entkommen. Also, essentielle Folgen von Arbeitslosigkeit – das war ein Auslöser. Ich habe mir diesen Mann vorgestellt; in seiner Beziehung zu seiner Freundin oder Frau, in seiner Verzweiflung, in seiner Sehnsucht, in seiner Wut, in seiner Stummheit, in seiner Selbstzerstörung, in all den Mißverständnissen, die unsere Biographien bilden. Am Anfang des Filmes gibt es die Szene, wo der Mann (Anton), dargestellt von dem von mir menschlich und professionell sehr geliebten und verehrten Wolfgang Michael, die Angestellte vom Arbeitsamt mit dem Kopf an die Wand schlägt. Das ist der Moment, mit dem sich Anton dem Zuschauer vorstellt. Es ist ein Moment von Verzweiflung, in dem Gewalt zur einzigen Sprache geworden ist, zur Sprache eines Menschen, dessen Schmerz ihn stumm hat werden lassen.

E. R.: Ich habe gerade in der Zeitung von einer Gerichtsverhandlung gegen einen arbeitslosen Ingenieur gelesen, der irgendwo in den alten Bundesländern den Leiter des Arbeitsamtes seiner Stadt erschossen hat.
F. K.: Wir hatten damals eine Diskussion über diese Szene in "Abendland". Wir fragten uns, ob man das tun könnte, ob man das tun sollte, ob es richtig wäre, eine Hauptfigur so einzuführen und ob es realistisch wäre. Das erste, was man von Anton sieht, ist, daß er die Angestellte des Arbeitsamtes gegen die Wand schlägt. Mein Standpunkt damals war, daß es in der Realität nicht bereits geschehen sein mußte, um trotzdem realistisch sein zu können, denn ich glaubte, daß es geschehen könnte und würde, daß es genügte, daß es denkbar war. Es lag in der Luft. Es war lediglich eine Frage der Zeit, wann mal einer ausrasten und jemanden dort zusammenschlagen oder vielleicht auch töten würde. Das ist folgerichtig. Es ist unserer Gesellschaft immanent, diese Gewalt ist unserer Gesellschaft eingepflanzt. Man kann Menschen nicht über ein Maß hinaus quälen. Sie sitzen dort im Arbeitsamt und warten und hoffen. Letztlich gibt es keine Chance. Das weiß auch jeder.

E. R.: In "Abendland" kommen noch andere Dinge hinzu, z.B. die Geschichte des kleinen Mädchens, das entführt und schließlich getötet wird.
F. K.: Wenn man einen Gedanken durchdenkt, bis zum Ende denkt, kommt man natürlich zu seiner Konsequenz. Davor sollte man nicht zurückschrecken, auch nicht, wenn dort etwas auf einen wartet, was man nicht will. Ein Film sollte ein in sich geschlossenes Universum sein. Die Gesetze, die in dieser filmischen Welt herrschen, müssen in sich logisch und konsequent sein. Das ist auch im täglichen Verlauf des Lebens so. Die Wirklichkeit unterliegt bestimmten, möglicherweise uns zu großem Teil unbekannten Gesetzen, und die wirken immer, nicht manchmal ja und manchmal nein. Das heißt, in einer Welt wie der in "Abendland", wo jeder versucht, irgendwie durchzukommen, aus allem Geld zu machen, Profit zu schlagen, ist es logisch und konsequent, daß auch ein Kind zu nichts anderem als einer Ware werden kann. Unsere Wirklichkeit ist ja so. Das ist doch keine Erfindung. Das Kind -– es ist ein ausländisches Kind, der Vater hat als Ausländer wenig Chancen, sich zu wehren oder Hilfe zu bekommen - wird entführt, und es wird verkauft. Zunächst "nur" mit der Absicht, den Päderasten eine "Freude" zu bereiten. Daß das Kind dabei umkommt, ist ein "Unfall". Das war nicht geplant, wird aber in Kauf genommen. Dem Dealer (Paul) dieses Kindes, schwankend zwischen Härte und Mitgefühl, was von Urs Remond eindrucksvoll dargestellt wurde, ist es nicht geheuer. Er entzieht sich und überläßt seinem Assistenten, das Problem zu regeln: Das Kind wird in den Fluß geworfen, um es verschwinden zu lassen. Die Hufeisen, die dem Kind auf die Handflächen genagelt sind, als es gefunden wird, haben einen ganz realen Hintergrund. Das ist keine perverse Phantasie von mir. Dieses Bild bekam ich aus dem Bericht eines serbischen Soldaten, der erzählte, was er im Krieg getan hatte, daß er zum Beispiel lebenden Männern Hufeisen unter die Fußsohlen genagelt hatte. In "Abendland" wurden sie dem Kind auf die Handflächen genagelt, vielleicht um es zu beschweren, damit es im Wasser nach unten gezogen wird. Auch vermeintlich surreale Bilder in meinen Filmen haben einen realen Hintergrund. Es gibt nichts, das nicht in der Realität Entsprechungen hat. Gesehen, gehört, geschehen auf dieser Erde, von Menschen Menschen angetan, und wenn bisher noch nicht geschehen, dann sicher möglich. Es ist kein poetisches Bild, auch kein Symbol, es ist so real, wie man es da sieht. Hufeisen unter Handflächen bedeuten Hufeisen unter Handflächen. Das ist es. Daß das ein Akt der Erniedrigung ist, ist eine andere Sache, aber es ist kein Symbol innerhalb des Filmes, sondern es steckt eine Symbolik in dem Akt, wie er in der Realität geschah. Die gab es natürlich im Krieg. Den Männern Hufeisen unter die Fußsohlen zu nageln, heißt – außer, daß es schmerzvoll ist – , sie zu Tieren zu machen. Aber es ist im Film kein Symbol für etwas, das außerhalb dessen stattfindet.

Um noch einmal auf solche Bilder zurückzukommen. Wie entsteht so etwas? Ich glaube, das ist eine Art alchimistischer Reaktion. Man hat in sich eine Welt, die man seit soundsoviel Jahrzehnten mit sich trägt, die wächst und sich verändert, und dann gibt es einen Moment, eine Geschichte, eine Situation, ein Bild, einen Gedanken, irgendetwas, das in diese vorhandene Mischung, die ich bin, eingebracht wird, eintaucht, und es entsteht eine Reaktion. So stelle ich mir das vor. Und das passiert mit bestimmten Geschichten, Situationen, Bildern, Gedanken, und mit anderen nicht. Unter Umständen, wenn man die Energie hat und bereit ist, sich bis zum Letzten dafür einzusetzen, wird ein Film daraus. Das ist wie mit den Menschen, die einem begegnen. In die einen verliebt man sich, in die anderen nicht. Mit einem, für den man eine große Energie aufbringt, eine große Leidenschaft und einen großen Willen – womit ich nicht verbissene Anstrengung meine –, kann man vielleicht eine Liebe erleben.

E. R.: Bei Deinen bisherigen Filmen warst Du für alles selbst verantwortlich: Geschichte, Regie, Kamera, Schnitt, teilweise sogar Ausstattung. Da ist mir das, was Du erzählt hast, vorstellbar. Aber wie wird es sein, wenn Du mit der Geschichte eines anderen Autors umgehst?
F. K.: Wenn die Geschichte selber dieser Funke ist, der in mich eindringt und Neues erzeugt, kann ich es tun. Wenn sie diese Qualität nicht hat, passiert nichts. Ich kann natürlich nicht jede Geschichte umsetzen. Was ich überhaupt nicht kann: Irgendetwas sklavisch umsetzen. Ich muß mit dem Stoff arbeiten können. Ich entferne dann vielleicht Elemente, die mir fremd sind oder fern und ersetze sie durch andere. Ich passe das an mich an. Das ist dann meine Arbeit, die Geschichte, die fremd ist, mit mir verwachsen zu lassen. Dadurch verändert sie sich. Dann kann ich sie auch drehen.
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